Liebe Michelle
- Vera Rieger
- 19. Okt. 2023
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Jan. 2024
Ich stehe in der Schlange fürs Klo im Grossmeisterpalast von Rhodos. Vor mir stehen drei britische Seniorinnen mit gepflegten, toupierten Haaren, schönen wallenden Kleider und diesen Audioguide-Teilern am rechten Ohr, mit dem Bändchen um den Hals. Draussen stand eine Gruppe Deutscher mit schreiendem Guide. Da sind mir die Audioguides lieber. Direkt vor mir ist noch eine junge Frau, ich schätze etwas jünger als ich, wahrscheinlich so 20, mit vollen blonden Locken bis in die Hälfte ihres Rückens. Ich bin neidisch auf sie. Ich hätte auch solche Haare, oder ähnlich, vielleicht etwas grössere Locken, wenn sie mir nicht im letzten halben Jahr alle ausgefallen wären. Jetzt hängt noch das letzte peinliche Bisschen hochgesteckt in meinem Scrunchy, welches das ganze Volumen des Dutts ausmacht. So viel zu meiner Mission, meine Haare endlich mal wachsen zu lassen. Ich möchte sie abscheiden, Misch, alle weg. Wenn schon, denn schon. Ich freue mich auf den Buzzcut, auch wenn er mir nicht stehen wird, wegen meiner Megastirn.
Ich betrachte die älteren Frauen vor mir und frag mich, was wir hier eigentlich machen. Kurz davor haben meine Freundin und ich ein Kombiticket für 4 verschiedene Museen in der Altstadt von Rhodos gekauft. Ich schaue auf mein Handy, das um meinen Hals hängt. Die beste Anschaffung des letzten Monats: Diese Handyhülle mit Band. Ultra uncool, aber ultra praktisch. Besonders auf dem Fahrrad. Es ist fast zwölf. Ich seufze. Eigentlich sollten wir jetzt noch in unserem Bett liegen im Studio, Hotel, oder was es denn auch immer ist, gerade aufgewacht sein, uns langsam aus dem Zimmer quälen, dann irgendwann zwei Strassen weiter im Bistro einen Gyros und Kaffee holen, weil wir das Frühstück im Hotel verpasst haben, danach im Pool des Resorts kurz schwimmen gehen, unseren Kater auf den Liegen in der Sonne ausbaden, vielleicht etwas lesen, oder auf Instagram ein paar Fotos von gestern Abend posten oder hoffentlich reposten, weil me nie betrunken genug ist, um nicht mehr sein Insta angeben zu können. Am späten Nachmittag würden wir noch ans Meer fahren, etwas schnorcheln, der Sonne beim Untergehen zuschauen, dann zurück, uns bereitmachen. Und alles wieder von vorne. In der Nacht würden wir unsere eigenen Geschichten schreiben, statt hier irgendwelche Geschichten zu lesen, die vor 1000 Jahren passiert sind. Unsere Storys werden es ziemlich sicher nie ins Museum schaffen, aber doch in unsere gemeinsame Chronik. Unser Hotel ist nämlich in Faliraki, dem Partyort der Insel. Das bedeutet, es gibt eine Strasse, in der alles blinkt und jedes Restaurant eine andere Form hat: Burg, Schiff, Palast, Tiger (okay, das ist ein Strip Club). Es erinnert mich an den Wilden Westen. Ich war noch nie in Amerika, aber es sieht aus wie diese kleinen Dörfer bei Lucky Luke, wo es auch nur eine Strasse gibt, die Häuser aussehen, als wären sie aus Karton, an den Seiten Kneipen stehen und irgendwo ein Club, wo die Frauen ihre Beine bis zum Kopf hochstecken, immer perfekt synchron. Hier kann me sich entweder betrinken oder Meta Tourismus betreiben. Das bedeutet, me schaut sich die Tourist:innen oder alles, was extra für sie gebaut wurde, an. Und schätzt es als Kulturerbe. Aber das macht einem auch zum arroganten snob. Also besser saufen.
Endlich bin ich dran, die Toilleten auf Rhodos lassen zu wünschen übrig, diese hier kann me wenigstens schliessen, das ist nicht oft der Fall. Die Festung langweilt mich. Ich glaube nicht mehr daran, dass wir etwas daraus lernen können, welcher Ritter- oder Mönchsorden im Mittelalter einen anderen abgelöst, verdrängt oder was auch immer hat. Es hängen zu viele Männer an den Wänden. Die Mosaike an den Böden sind schön. Die mittelalterliche Festung wurde Anfang des 20ten Jahrhundert wieder komplett aufgebaut, während die Insel zu Italien gehörte. Und Italien von Mussolini regiert wurde. Hier geht es aber nicht um Faschismus, es geht um ehrenvolle Ritter, so wie der vor mir, der mich aus einem menschengrossen Bildschirm auf Englisch anspricht. Das ist mir zu viel Mann. Ich muss daran denken, dass überall auf der Insel in jedem zweiten Touri-Shop Bieröffner mit angemalten Holzpenissen in verschiedenen Grössen verkauft werden. Ich habe noch nicht verstanden, was es mit diesen multifunktionalen Dildos auf sich hat. In unserer Bubble ist es ja in den letzten Jahren zum Trend geworden, aus allen möglichen Materialen eine Vulva zu formen. Gemalte Vulven auf Papier, Seifenvulven, Tonvulven, Tortenvulven. Wir sollten Vulven aus Holz schnitzen, sie bunt anmalen, einen Bieröffner daran kleben und dann hier auf der Strasse verkaufen. Das wär mal ein feministischer Akt!
Das zweite Museum ist langweilig. Es hängen bemalte Teller an der Wand, die ich auch bei meiner Grossmutter im Schrank oder in einer Brockenstube fände - und auch noch mitnehmen könnte. Hier darf ich nur schauen. Das dritte „Museum“ ist eine Kirche, die zwischenzeitlich auch eine Moschee war. Ich lese die Schilder genau und überlege mir krampfhaft, was wir daraus für heute lernen können. Wenn es überhaupt etwas gibt. Ich wandere über die Mosaike im Vorgarten der Kirche und versuche anhand dieses Gebäudes irgendeine Lösung für den Angriff der Hamas auf Israel und Israels gewalttätige Verteidigung zu finden. Denn das ist es, was mich eigentlich die ganze Zeit beschäftigt. Seit dem Angriff hänge ich am Liveticker auf der SRF-App, lese statt Strandlektüre Nachrichten, versuche verschiedene Standpunkte zu verstehen, komm nicht weiter. Misch, was denkst du darüber? Ich finde es so schwer, mir eine Meinung zu bilden und bin noch dran. Täglich passieren neue Dinge, das hier wird auch nicht up to date sein, wenn es öbber liest. Am Abend sitzen wir im griechischen Restaurant und ich versuche meine Augen zwischenzeitlich vom Fernseher wegzunehmen, der die Kriegsvideos der Geiseln weichgezeichnet zeigt, die ich davor schon scharf auf Instagram gesehen habe. Doch bei diesem Konflikt ist sich mein Instagram nicht einig. Ich kenne einige israelische Personen persönlich und folge ihnen. Die eine ist auch sehr nationalistisch, braucht „my country“ und „my people“ in ihren stories. Eine marokkanische ehemalige Mitarbeiterin von mir postet Videos mit #freepalestine. Weisse, nicht-jüdische Freunde von mir rufen zu pro-palästinensischen Demos auf. Ich lerne täglich neue Wörter, versuche alle verschiedenen Zusammenhänge zu verstehen, lese verschiedenste Berichte. Was ich denke: Die Hamas sind eine Terrororganisation und keine Freiheitsbewegung. Die Reaktion von Israel ist nicht nur masslos übertrieben, sondern es wirkt fast schon, als hätten würde ihnen der Angriff in die Karten spielen, um eine grossflächige militärische Operation im Gazastreifen gerechtfertigt durchzuführen. Netanjahu ist praktisch ein Diktator. Ich denke gerade viel über das „Recht auf Verteidigung“ nach. Beim Angriffkrieg von Russland auf die Ukraine ist das ja auch ein wichtiger Begriff. Vor ein paar Jahren hätte ich mich noch als fast radikale Pazifistin bezeichnet. Meine Meinung war, das jegliche Waffen zu mehr Leid und Toten führen werden, egal von wem gebraucht. Dann mit dem Ukrainekonflikt wurde diese Meinung sehr unbeliebt und ich habe auch selbst eingesehen, wieso es ein Recht auch Verteidigung, auch militärischer Art, braucht. Jetzt bin ich nicht mehr sicher. Weisst du, was ich auch ein Witz finde? Dass es „Krieg“ und „Kriegsverbrechen“ gibt. So als wäre Krieg nicht an sich schon ein Verbrechen. Ich verstehe das Argument, dass Zivilist:innen geschützt werden müssen. Aber Soldaten sind vielleicht auch nicht freiwillig Soldaten und wollen nicht getötet werden. Ich lese Interviews mit irgendwelchen akademischen Theoretikern, die eine Bodenoffensive Israels nach Völkerrecht verteidigen. Da steht dann Israel „darf“. WTF. Wer sagt das, welches beschissene Recht verteidigt die Misere von Millionen Menschen. Ein besserer Theoretiker hat in einem Bericht gesagt, dass seine einzige Hoffnung in dieser schlimmen Lage ist, dass eine neue Friedensbewegung daraus entsteht. Ich denke, dass es das braucht.
Das vierte Museum war ein archäologisches mit einem wunderschönen Innenhof mit vielen Pflanzen, Dattelpalmen und sonstigen südländischen Bäumen, deren Namen ich nicht kenne. Dies bringt mich zum letzten Teil dieses Briefes, den ich zynisch-sarkastisch begann, dann ernst-traurig wurde und nun schön und hoffnungsvoll abschliessen möchte. An schönen Orten habe ich immer den Wunsch, dort zu heiraten. Ich stelle mir dann alle meine liebsten Menschen in schönen Kleidern vor. Ich glaube nicht, dass dies damit zu tun hat, dass ich eine hoffnungslose Romantikerin bin (vielleicht ein bisschen) oder dass ich unbedingt heiraten möchte. Es ist mehr so, dass ich diesen wunderschönen Ort gerne mit allen Menschen, die ich liebe, teilen möchte. Jetzt war ich nicht allein, aber zum Teil fühle ich mich an besonders ehrfürchtigen Orten der Natur sehr einsam, da ich die Erfahrung mit niemertem teilen kann. Wir waren an noch so einem Ort. Auf einem kleinen Hügel oberhalb eines sehr schönen Strandes. Da sind wir nach einem unserer beach days bei Sonnenuntergang im Flip Flops hochgekraxelt. Leider haben wir es nicht geschafft, oben zu sein, bevor die Sonne ganz verschwunden war, aber es war trotzdem atemberaubend. Oben gab es eine grosse gerade Fläche, umzingelt von Ruinen einer Burg, auf denen wir kletterten. Einige Olivenbäume vervollständigten das idyllische Bild. Unten grasten die Ziegen und um uns herum Nichts als das weite Meer. Ich glaube, es hätte dir sehr gut gefallen, da du es ja liebst in die Weite des Meers zu blicken. Übrigens noch danke für deine Karte von Ligurien, ich habe mich sehr gefreut. Apropos Meer und Baden. Ein weiteres Highlight für mich von den Ferien war das Südkap von Rhodos. Wir sind mit dem Auto bis ganz nach unten gefahren, vorbei an den Teilen, wo es im Sommer gebrannt hat. Das war schon ziemlich beängstigend, aber sie sind dran, schnellstens wieder neue Bäume zu pflanzen und ich war überrascht, dass keine Häuser beschädigt sind, obwohl darum herum vieles abgebrannt ist. Ganz unten an der Insel gibt es ein Delta, auf dem auf der einen Seite das Meer still ist und auf der anderen Seite wellig. Das scheint immer so zu sein, es ist sogar angeschrieben. Ich habe mich entschieden, auf der welligen Seite baden zu gehen. Als ich da so in den Wellen herumhüpfte und mich reinschmiss, überkam mich plötzlich eine grosse kindliche Freude am Wasser. Die unbändigen Wellen beeindruckten mich, dieses Spiel zwischen Macht und Unterwerfung mit der grossen Masse des Ozeans. Ich lacht und hüpfte und jauchzte. Es erinnerte mich an das erste Mal, als ich am Meer war. Mit Elf. Es war nicht wirklich das erste Mal, als ich drei war, sind wir an die Ostsee gefahren, aber da konnte ich logischerweise noch nicht einfach so baden. Dann im Sommer als ich 11 war, waren wir nach 12 Stunden Autofahrt (meine Eltern fahren sehr langsam Auto und wir machten immer viele Pausen…) endlich am südfranzösischen Badeort in der Languedoc angekommen. Irgendwann am Abend, aber es war noch hell, vielleicht so um acht. Es war nicht besonders warm, der Himmel grau, das Meer auch. Aber als ich es endlich gesehen hatte, konnte ich mich nicht zurückhalten. Ich war ins kalte Wasser gesprungen und hatte damit eine neue Freiheit entdeckt, die nie zuvor da gewesen war. Es war unbeschreiblich. Die Liebe zum Meer hat mich seither nicht mehr verlassen. Ich kann übrigens nicht verstehen, dass du es lieber meidest, im Meer zu baden. Aber ich verstehe, dass es furchteinflössend sein kann. Leider konnte ich mein Wellenhüpfen nicht ganz so sorglos geniessen, da um mich herum überall Kitesurfer:innen herumflitzten. Ich hatte reale Angst, dass sie mich umbringen. Ich stellte mir vor, wie bei einem Zusammenstoss mein Kopf meterhoch in die Luft flöge und das spritzende Blut sich schön mit dem schon goldenen Himmel mischt. Das Brett ist ja genau auf Halshöhe, und diese Dinger rasen wir verrückt, ich bin sicher, das das passieren würde. Vielleicht gibt es davon Videos auf Youtube. Besser nicht Nachschauen. In diesem Sinne möchte ich diesen ersten - zu langen - Brief beenden. Verzeih mir bitte, dass ich vom Präsens irgendwann einfach ins Präteritum gerutscht bin und dass ich das Plusquamperfekt und Konditionell nicht so gut beherrsche. Aber du wirst ja im Rahmen der Buchmesse bestimmt viele kluge Texte lesen, dann muss es dieser nicht unbedingt sein. Ich wünsche dir noch viel Spass dort - profite bien! - und freue mich TOTAL davon zu lesen. Es war ja auch alles andere als kontroversfrei.
Bleib gesund und bis bald.
Xoxo
Vera
PS: Was hältst du von meiner neuen Gendermethode, einfach die schweizerdeutschen Wörter zu benutzen, die neutraler sind? „Öbber“ hat sich bei uns am Theater schon etabliert. Ich bin noch nicht so davon überzeugt, aber ich mag „mensch“ einfach nicht. (Ausser das Lied von Herbert Grönemeyer, banger.)



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