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Liebe Michelle

  • Vera Rieger
  • 3. Juni 2024
  • 6 Min. Lesezeit

Teil 1: 

 

Ich bin gerade so hyped, weil Mai ist einfach so geil. Mai ist einfach der geilste Monat auf der ganzen Welt. Nicht nur weil ich Geburtstag habe, sondern wegen dem Licht. (scheiss auf Genitiv) Vielleicht vor allem wegen dem Licht. Ich sitze gerade in Altstetten am Bahnhof, es ist kurz nach 8 und eigentlich sollte ich unbedingt lernen, da ich morgen zwei Prüfungen habe und heute statt zu lernen nach Zürich gefahren bin, um mir das Masterprojekt meiner Freundin anzuhören, aber schliesslich war es gar nicht dieses Projekt, dass mich so geflashet hat, aber dazu nachher mehr. 

 

Ich sollte lernen, aber ich kann nicht, da zu viele Worte in mir drinn sind, die raus müssen und ein paar werde ich dir schenken, weil ich denke, dass es passt und weil ich ich deine poetische Sprache letzte Woche so unglaublich schön fand und mich dem anschliessen möchte. Das Konzert war schön, aber inspiriert hat mich heute etwas anderes. 

 

Ich habe eine tschechische Sängerfreundin aus dem Bachelor wiedergetroffen, die ich sicher ein Jahr lang nicht mehr gesehen hatte. Sie hatte bei einem anderen Konzert gesungen. Ihr Duft, das eine Parfüm, dass sie schon immer trug, gemischt mit dem Rauchgeruch, der immer an ihr hängt, hat mich gleich Erinnerungen hervorkramen lassen. 

 

Ich sitze im schimmernd schwarzen Saal, in dem übrigens Nemo die Akkustikversion zu "the code" aufgenommen hat. Vorne spielt eine Pianistin atemberaubend Dvorak und Janacek, ich bin zu Tränen gerührt, doch was mich noch mehr beflügelt ist der einigartige Duft von E., der zart den ganzen Raum füllt. Er nimmt mich zurück in die Zeit, als wir in ihrem abgefuckten Estrich oben an ihrer Schlummermutter am Züriberg auf der Couch sassen. Dort lebte sie mit ihrem Schweizer Freund, der zwei Jahre jünger und Automech war und der viel zu viel trank. In diesem Estrich standen überall leere Schnapsflaschen, ein paar E-Gitarren, Bücher und anderes, irgendwo war noch eine Soundanlage installiert. In ihrer kleinen Wohnung darunter, die aus einer etwas vergrösserten Küche, einem Schlafzimmer und einer Besenkammer bestand, sah es immer recht wiederlich aus. Das dreckige Geschirr stand herum, da das Abwaschen seine Aufgabe war, er es aber nie machte. Der Kühlschrank war voll, in der einen Ecke hauste zufrieden Dorian, E.s Hamster. Trotzdem fühlte ich mich wohl. Ihre etwas aufdringliche Gastfreundschaft führte auch dazu, dass wir nie nein sagen konnten. Also sassen wir bei jedem Treffen irgendwann oben auf der Couch und schauten E. zu, die einen Joint drehte, um ihn mit uns zu teilen. Sonst bekamen wir Tabak. "Wir" sind ich und die Dritte im Bunde. So lag ich also da, die Beine hochgezogen, die Ellenbogen in die Couchlehne gedrückt. Wir benutzen nicht die Soundanlage, sondern hörten auf E.'s I-Pad ein Cellokonzert von . Sie beklagte sich über das Studium, ansonsten sprachen wir in holprigem Englisch über Eltern, Musik und die Zukunft. An dem einen Abend begannen J & Ich sehr spät nachts sehr betrunken "earned it" von The Weekend auf der Gitarre zu spielen. E. und ihr Freund gingen schon schlafen und wir wollten sie durch unseren erotischen Gesang (vor ihrer Schlafzimmertür) dazu bringen, anderes zu tun. Das war keine sehr gute Idee. Danach hörten wir bis 5 Uhr morgens einen Podcast von einem Dude, der Männerseminare gibt, um Männer wieder dazu zu bringen, richtige Männer zu werden. Dieses Andrew-Tate-mässige Geschwafel, wie man richtige Dominanz über Frauen hat etc. hörten wir uns viel zu lange an, da J. einen Typ datete, der eben diese Seminare besuchte. J. stand auf und stellte das Handy aus. Ich öffnete das Fenster und bemerkte, dass es draussen begonnen hatte zu schneien. Um 6 Uhr morgens radelte ich durch den Nieselschnee nach Hause. 

 

Es gab nicht sonderlich viele von diesen Treffen und ich kann sie nicht mehr genau einordnen, es war irgendwann anfang Studium, vielleicht auch während Corona. Mit der Zeit wurde es weniger exzessif, ich kiffte nur noch ein bisschen und fuhr dann die zwei Minuten zu F., der ganz in der Nähe wohnte. Das kleine bisschen high sein war mein Geheimnis und ermöglichte seelige Momente. 

 

J. datet jetzt keine toxischen Typen mehr und E. ist nicht mehr mit dem Automech zusammen. Diese Momente hinterlassen bei mir eine Nostalgie, da alles, was ich da erlebte, sehr wenig verflochten ist mit meinem sonstigen Freundeskreis oder mit Basel. Es fühlt sich ein kleines bisschen wild an, auch wenn es das vielleicht nicht ist. Es sind Momente, die in diese Zeit und an diesen Ort gehören. E. wohnt noch da, aber ich weiss nicht, ob ich sie dort besuchen wollen würde.

 

Teil 2: 

 

Nun so weit so gut. Heute ist schon Sonntag, Abgabetag. Ich bin in den Bergen, etwas am chillen und Jahrestag feiern mit F. (ein Viertel meines Lebens, say what, vielleicht werde ich ein anderes Mal mehr darüber schreiben, aber es gehört auch nur mir) Die letzten zwei Wochen waren sehr intensiv, aber auch schön. Ich hatte letzte Woche sechs Prüfungen (an der Maiengasse, wie passend) und war deswegen oft bis abends in der Unibibliothek und am nächsten Morgen gleich wieder. (Wenn ich nicht stattdessen nach Zürich fuhr oder am Wochenende verkatert herumlieg). Die Zeit an der Uni Basel ist für mich nun somit vorbei und ich muss sagen, auch wenn ich mich auf die PH freue, bin ich doch etwas traurig. Ich habe - eigentlich schon letztes Semester, aber dieses Semester besonders gegen Ende -  meine "Clique" gefunden. Sie bildete sich sehr organisch, wir sind einfach die, die letztes Semester mit Französisch begonnen haben. "Clique" war der Wortlaut einer Mitstudentin Ende Bachelor, die uns dafür zu beneiden schien, "Gang" nennen wir uns selbst. 

 

Das schöne an unserer Clique ist, dass alle sehr verschieden sind mit unterschiedlichem Background. Wir haben alles von perfekt geschminkt mit aufgespritzten Lippen, Profibasketballer, der keinen Alkohol trinkt, Sizilianer aus bescheideneren Verhältnissen, artsy girl mit speziellem Tattoo, das auf Insta Teil ihrer Brüste zeigt, arabisch und portugiesisch-Enthusiastin, Professoreneltern, LSD-Erfahrung, mix aus japanisch & brasilianisch, abgebrochenes Jus-Studium, abgebrochenes Mathestudium, schiefe Zähne, selbsternannter light skin, in Tschad aufgewachsen, Romande in Amerika geboren, Aufzählung inkomplett. Uns eint, dass wir alle Lehrer:innen werden wollen, mindestens als Zweitwahl. Wenn ich richtig gezählt habe, kommen wir zu 6. auf acht verschiedene Staatsangehörigkeiten. Am Abend nach der letzten Prüfung standen wir beim von der Fachgruppe organisierten Pizzaessen draussen im Regen. Sie machten sich über mich lustig, da ich Skifahren kann. Ich bin der "Bünzli" der Gruppe, die einzige Vollblutschweizerin, die keinen anderen Pass besitzt. Diese Diverstität geniesse ich sehr, sowie auch die bedingungslose Zugehörigkeit. Mit den einen habe ich noch deutlich mehr Zeit verbracht als mit anderen. Wir wissen sehr wenig übereinander, aber es reicht für erste Insider. Ich habe noch nie mit Leuten gechillt, die pro Satz fünf Mal "Bro" sagen, aber ich fühlte es sehr. Das ist es, was ich am Theater so sehr vermisst hatte. Dort hatte ich es nicht einmal geschafft, einen einzigen vertrauten Kontakt zu knüpfen. Diese auf ihre Weise alle merkwürdigen und faszinierdenden Menschen sind mir sehr ans Herz gewachsen und sie werden mir fehlen, auch wenn ich weiss, dass man sich in den weiteren Semestern sowieso weniger gesehen hätte. Aber an der PH wird es sicherlich von wandernden, skifahrenden, (kletternden) Käse-Schweizer:innen wie mich wimmeln. (Zu meiner Verteidigung, diesen Winter bin ich nie Ski gefahren). 

 

Wenn wir zusammen abends um neun aus der Bibliothek in den regnerischen, aber noch hellen Maiabend traten - vielleicht klärte sich der Himmel auch gerade und die Sonne erwies uns noch einmal die Ehre -, unsere Köpfe dampfend mit philosophischen Ideen und Werknamen von Rousseau bis Zola, dann empfand ich eine Leichtigkeit und Lebendigkeit, die ich lange vermisst habe. 

 

So, dieser Brief ist sehr chaotisch. Ich habe mir vorgenommen, nach diesem Wochenende in den Bergen mal eine Woche nur zu chillen, etwas lesen und schreiben vielleicht und auch nicht zu arbeiten. Aber jetzt wurde ich angefragt, ob ich Co-Regisseurin bei einem Schultheater sein möchte und das wollte ich nicht ablehnen, weswegen ich morgen früh um 07:30 mit 15-Jährigen Theater spielen darf. Ich freue mich sehr, aber eigentlich ist das eine unmögliche Zeit dafür. 

 

Deswegen muss ich hier Schluss machen, aber erst noch die Kategorien. 

 

Etwas zum Lesen: Ein "Tweet" von El Hotzo "Mai als Monat komplett overpowerd, perfektes Wetter UND jeder zweite Tag ist ein Feiertag, enormer Freak wer nicht absoluter Mai-Fan ist". Okay, das mit dem Wetter stimmte dieses Jahr nicht, aber sonst schon. 

 

Etwas zum Hören: Da der Lesetipp so kurz ist, wird es hier intellektueller, Cello Konzert Nr. 1 in h-moll Dvorak. https://m.youtube.com/watch?v=leLLHDBSybg Ohrgasmus, bekannter Banger. 

 

Etwas zum Glotzen: Ich gotze immer noch "one tree hill", aber ich schlage dir jetzt ein französisches Meme vor, dass mir im Prüfungsstress als Aufheiterung diente: https://www.facebook.com/bestafricanvinesofficial/videos/je-suis-au-boulot-arrêtez-de-me-demander-deliresdumonde-follow-best-african-vine/360475335697273/

 

Etwas zum Essen: Pizza, in 6 Stücke geteilt, für 6 Jahre Beziehung.

 

Alles Liebe 

 

Vera 


PS: Geniesse Norwegen bzw. die unendlich lange Reise dorthin auf dem Landweg. Du und S. habt ein Diplom verdient für euren immer noch laufenden Flugstreik, während viele anderen aufgegeben haben.

 
 
 

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