Liebe Michelle
- Vera Rieger
- 2. Juli 2024
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Sept. 2024
Erst mal, wie geht's? Frag ich sonst nie.
Eigentlich will ich ja nur über Fussball schreiben, aber du hast mir keine leichte Stücke hinterlassen und ich möchte gerne auf deine Gedanken über die Klimaangst eingehen. Erstmal möchte ich sagen, dass ich grossen Respekt vor dir habe, dass du das Fliegen immer noch gleich konsequent zu vermeiden versuchst. Denn natürlich hast du recht mit deinen Beobachtungen: in unserem Freundeskreis lassen die Bemühungen einen nachhaltigen Lebensstil zu führen nach und anderes rückt stärker in den Fokus. Du meintest auch, dass ich mich verteidigen soll. Gerne.
Ich glaube, dass es verschiedene Gründe hat. Ende Zehnerjahre war die Klimabewegung sehr stark und wir sind schon fast unbewusst in den Klimastreik hineingerutscht. Greta sei dank. Die Positionierung und der dazugehörige Lebensstil waren vorgegeben und klar in unserer Bubble. Obwohl sich die Probleme bis heute nur verschärft haben, sind mit den schlimmen Kriegen auf der Welt wieder andere Themen stärker im Fokus. Auch wenn wir uns das vielleicht nicht eingestehen wollen, liessen auch wir uns ein Stück weit vom "Hype" tragen. Andererseits denke ich, dass sich unser nachhaltiger Lebensstil sehr stark durch Verzicht auszeichnet. Dieser Verzicht wurde gewissermassen identitätsstiftend für die Gruppe. Sich aber auf die Dauer über Verzicht zu definieren, scheint mir eher unproduktiv und nicht nachhaltig für das eigene Wohlbefinden. Wahrscheinlich verändert sich der persönliche Anspruch an sich selbst mit der Zeit. Ich habe die Hoffnung, meinen winzigen Teil zu der Gesellschaft beizutragen und sie somit ein kleines Stückchen besserzumachen. Sozusagen positive Spuren zu hinterlassen, anstatt meine negativen Spuren auf ein Minimales zu reduzieren. Denn in dem Fall wäre Totsein ja am effektivsten. Wenn dies nun bedeutet, dass ich aus Neugier oder welchen Gründen auch immer auch mal Fleisch esse oder fliege, kann ich das mit mir vereinbaren.
Anfang Jahr hatte ich zum Beispiel die Hoffnung, mich in Indien zu verlieben (in das Land, nicht im Land) und dass es ein Kraftort werden würde, an den ich später immer wieder zurückkehren möchte. In dieser Zeit hatte ich den Glauben an einen solchen Anker gebraucht. Nun, das war nicht der Fall, ich spüre nach dieser Reise überhaupt keinen Drang mehr, nach Süd(ost)asien zu reisen. Ich will einfach wieder nach Italien, wo sowohl Touristen als auch EInheimische sich an überfüllten Stränden bräunen. (Meine Italiensehnsucht hittet gerade echt stark, fühl mich wie Goethe, kennst du das Land, wo die Zitronen blühen und so). Ich weiss jetzt, dass es mir persönlich reicht, meine Sommer am wunderschönen Mittelmeer in Autoerreichbarkeit zu verbringen. Auch Griechenland fand ich sehr schön, finde es aber auch ähnlich wie gewisse toskanische Strände. Das ist eine sehr gute Erkenntnis fürs Klima. Diese Erfahrungen musste ich aber machen, um dies zu realisieren. Das ist nur ein Beispiel, aber alle müssen für sich eine Balance finden, die für sie stimmt. Dafür braucht es zum Teil gewisse Erfahrungen. Dabei geht es nicht um ein Ignorieren von Fakten, ein Besserwissen oder das Ignorieren von Schamgefühlen. Schämen kann man sich ja nur anhand vom Massstab, an dem man sich selbst misst. Du hast höhere Erwartungen an dich selbst, was sehr lobenswert ist.
Der wichtigste Grund ist aber sicher, dass wir alle aus unserer Bubble ausgetreten sind, einige mehr und andere weniger, und unser eigenes Tun mehr in Relation mit dem unserer Mitmenschen stellen. Und es ist leider für viele Leute normal, mehrmals jährlich zu fliegen oder zwei mal täglich Fleisch zu essen. Ich stimme dir zu, dass dies hochproblematisch ist. Ich kellnere bei Gesellschaften mit 200 Leuten und es gibt kein einziges Vegimenü, besonders bei älteren Leuten, es fehlt jegliches Bewusstsein und das macht mich auch sehr nachdenklich.
Ich finde es spannend, dass du sagst, dass nicht sehr oft darüber gesprochen wird in unserer Gruppe, da ich es nicht so empfinde. Wir sind sicher weniger idealistisch als mit 18. Dass irgendwann der Zauber an Interrailreisen mit Nächten auf unbequemen Bänken in Zughäuschen verfliegen würde, war aber abzusehen. Ebenso wie Hostelzimmer mit Eierschalen im Bett. Ja, wir werden älter.
Vielleicht komme ich jetzt zu der persönlichen Verteidigung, die du von mir erwartet hast. Ich möchte dafür auf ein paar deiner Zitate genauer eingehen:
"Gehört es zum Älterwerden, sich selbst einzureden, dass es doch auch Gründe dafür gibt, Dinge, von denen man versprochen hat, sie niemals zu tun, nun doch zu tun?"
Ich weiss nicht genau, was du dir versprochen hast, niemals zu tun. Ich habe mir nie viel vorgenommen. Um ehrlich zu sein, habe ich sogar immer von einem Beruf geträumt, bei dem ich sehr viel Reisen muss. Dies hätte auch Flugreisen beinhaltet im besten Fall. Als Lehrerin werde ich das nicht müssen, was mich zu einem umweltbewussteren Menschen machen wird, nehme ich mal an. Vielleicht bin ich dadurch etwas grosszügiger mit mir? Schwer zu sagen.
"Warum machen wir heute, wo wir selbst entscheiden können, dieselben Fehler wie unsere Eltern? Vielleicht sogar schlimmere?"
Den Satz fand ich spannend, da er vielleicht psychologisch einiges erklärt. Ich denke, dass du mit "unsere Eltern" auch allgemein "die Generation von uns" meinst. Was meine Eltern aber angeht, trifft ides nämlich nicht zu, der Lebensstil meiner Eltern ist sehr nachhaltig. In diesem Bereich kann ich ihnen keine Vorwürfe machen. Ich bin noch nie mit meinen Eltern geflogen, mein Vater fährt täglich mit dem E-Bike zur Arbeit und das Familienauto ist für Grosseinkäufe oder Ferien. Diese verbrachten wir auf dem Campingplatz. Daneben sind wir viel Zug oder Velo gefahren. Es gibt sicherlich "grünere" Familien, aber es ist eine gewisse Bescheidenheit im Lebensstil zu erkennen, nicht in allen Bereichen natürlich, da wir doch oft wegfuhren. Diese war nicht finanziell bedingt. Ich hatte dann das Bedürfnis auch andere Dinge kennenzulernen und vielleicht gewissermassen auszubrechen, auch andere Lebensweisen zu sehen, um meine eigene Balance zu finden. Daran bin ich noch dran. Schämst du dich für das Verhalten deiner Eltern?
Nach dieser schwierigen Frage halte ich noch mein Versprechen von letzter Woche ein. Über Fussballerinnerungen schreiben. Heute war ich mit F. beim Public Viewing und durfte Frankreich beim Viertelfinaleinzug zusehen. Es ist einfach schön, wenn um 9 die Sonne untergeht. Jetzt sind wir wieder zuhause und warten mit vielen Millionen anderen Zuschauern am Fernseher sehnlichst auf den SIIUUU - Jubel. Samstag als die Schweiz gewann war auch wundervoll. Jetzt glauben alle auf das ganz grosse Sommermärchen. Meine komplette Euphorie ist aber leider noch etwas ausgeblieben. Hier aber eine Zusammenfassung der letzten Finalspielen bei Meisterschaften:
EM 2016: Das Finale Portugal-Frankreich schauten wir auf einem Handy mit sehr schlechtem Internetempfang im Pfadilager. Ich war für Frankreich, Griezmann mein grosser Crush, es war kurz vor meinem Austausch. Leider verloren die Franzosen, wirklich viel vom Match haben wir nicht mitgekriegt.
WM 2018: Mein Sommermärchen. Ich war mit meinen französischen Freundinnen in der Bretagne in den Ferien. Frankreich stand im Final (Ich habe ehrlich vergessen gegen wen, retrospektiv nicht so wichtig, Holland?) Wir gingen ins Public Viewing für das Spiel um sechs. Davor zeichneten wir unsere Wangen bleu-blanc-rouge und statteten uns mit aufgeblasene Stäben aus, um so richtig Stimmung zu machen. Schon vor dem Spiel sang (oder eher schrie) ich mit allen die Marseillaise, danach bei jedem Tor noch einmal. Beim Abpfiff kam es zur kompletten Eskalation und ich sang mit allen hüpfend "On est champion, on est champion, on est, on est champion du monde". Danach liefen wir direkt zum Wasser im Meer von hupenden Autos und Männer, die ihren Jubel in ihrer Entblössung auslebten (Das verstehe ich bis heute nicht so genau). Am Strand liefen viele mit Kleidern ins Meer. Wir picknickten dann gemütlich. Es war ein cooler Abend.
EM 2021: (Verschoben wegen Corona): Mit zwei Freundinnen war ich während des Finalspiels in Pisa. Es kam zum Penaltyschiessen, welches die Italiener für sich entschieden. Sehr viel Herzklopfen in dem Moment. Danach flogen die Petarden, wir liessen uns etwas treiben vom Geschehen und holten uns noch ein Gelati.
(Epischer natürlich als die Schweiz gegen Frankreich gewannen und wir im Brunnen landeten)
WM 2022: (Habe ich natürlich boykotiert bis auf das Finale): Nach zwei aufeinanderfolgenden JahrenIch war stark überzeugt , dass der Erfolg eines Teams an meiner Präsenz in deren Land liegt. Deswegen bin ich an diesem kalten Dezemberabend nach Colmar gefahren. Beide Tore von den Franzosen haben wir verpasst auf dem Weg von der einen Kneipe zum Flammkuchenrestaurant und vom Flammkuchenrestaurant (dort hatte es schlechten Empfang) zum Public Viewing im Schnee. Als Messi seine Mannschaft zum Sieg führte waren nicht nur die Hände, sondern auch die Herzen der Anwesenden gefroren. Eine ernüchternde Stimmung. WM im Winter 0/10.
Nun noch zu den Kategorien:
Etwas zum Lesen: Ich habe mir wieder einmal einen Schunken vorgenommen. Er heisst "Tout le bleu du ciel" von Mélissa de Costa und ist sehr schön sommerkitschig, gut für Badiaufenthalte. Gerade bin ich aber in dem Teil, der zu lange ist. Sie meisten Geschichten bräuchten nicht 800 Seiten.
Etwas zum Glotzen: Die Serie "One Day" auf Netflix. Der Film fand ich schon schön, aber die Serie ist besser.
Etwas zum Essen: Babaganoush.
Etwas zum Hören: Letztens war ich wieder an meinem alten Computer. Da sind sehr viele alte Singvideos von mit drauf und ich habe gemerkt, dass ich gewisse Komponisten schon sehr mochte und etwas vermisse. Deswegen von Leondard Bernstein aus dem Zyklus I hate Music: "I'm a person too", das darum geht, dass Kinder auch ernst genommen werden wollen. Vielleicht etwas spezielle Kost, wenn man nicht damit vertraut ist.
Alles Liebe
Vera
PS: Der slowenische Goalie hat gerade den (etwas strengen) Penalty von Ronaldo gehalten. Krass. Erste Nachspielzeit vorbei, Ronaldo schluchzt, omg. Er ist emotional am Ende.
PS2: Um was ich mir wirklich weltpolitisch gerade Sogen mache: die Neuwahlen in Frankreich, bei denen Marine Le Pens RN droht, eine absolute Mehrheit zu erreichen. Dann kann sich dieses Land unter anderem komplett vom Klimaschutz verabschieden. & Amerikas politische Lage sowieso.
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