Liebe Michelle
- Vera Rieger
- 9. Nov. 2023
- 9 Min. Lesezeit
Das ist der erste Brief, den ich mühsam am Handy eintippe. Ich warne dich vor, er wird herbstlich-melancholisch. Ich versuche dennoch ab und zu eine Prise Humor hinzuzufügen. Heute war so ein richtiger Herbstsonntag; windig, die bunten Blättern wurden in Massen von den Bäumen gefegt, kalt, die Finger am Fahrradlenker versteiften sich, dunkel, es dämmerte zu früh, und ich musste die Weite und die Lichter suchen. Gerade sitze ich auf den Treppenstufen des besetzten Hauses, in dem mein Bruder wohnt. Meine Finger sind sehr langsam wegen des fehlenden Blutflusses. Man möchte meinen, in so ein besetztes Haus könne man einfach reinschneien, aber no no, hier geht alles mit rechten Dingen zu. Die Tür ist schwer und das Schloss intakt.
Direkt nach unserem Businessbrunch heute Mittag für dieses Projekt hatte ich ein etwas komisches Gefühl. Du schienst mir sehr viel nachdenklicher und zweifelnder als sonst, ich meinte sogar zwischendurch einen Hauch Traurigkeit zu erhaschen. Ehrlich gesagt war ich etwas überfordert, weswegen ich nichts gesagt habe. Ich hoffe, ich habe dich nicht überfordert. Aber gegen Ende waren wir ja dann doch produktiv und es wurde lockerer. Ich möchte dir jetzt auch nichts unterstellen. Vielleicht empfandst du es ganz anders, wahrscheinlich habe ich ein falsches Bild. Doch kurz bahnte sich in mir der Gedanke auf, dass es nun vielleicht Dinge gibt, die wir uns besser schreiben können als sagen. Weisst du, was ich meine? Das wäre schade, oder? Vielleicht auch schön, aber diese Frage beschäftigt mich gerade. Die Zweifel nach dem Brunch sind aber schnell wieder verflogen und ich habe mich in einen Namenssuchrausch begeben. Hier sind meine Vorschläge: (schlecht, aber dienen vielleicht als Inspi):
Wort am Sonntag
Brief(e) zum Sonntag
Hilfe am Sonntag
Wort zum Montag (Album vom Otto Waalkes)
Alles liebe (zu generic)
Sonntagspost, Post am Sonntag
Post für dich(Wieso dönt alles nach Kirche immr?)
Swiss gossip girls (fav so far)
irgendöbbis mit Hedwig (cringe)
Zweimal Zwanzig (Podcast vo 2 dudes gits scho)
In littera veritas (oho)
Ideentausch
Frauen tauschen Briefe, Frauentausch mit Brief (Frauenbrieftausch?)
Silena am (an) Nokia
Eine Neue Nachricht
Rieger&Harnisch (Wie so e buude eig no geil)
geschriebener Podcast
Raub am Wort (odr eifach irgendöbbis wo dönt wie true crime)
Ideen von F.: Porca mischveria, 2 blogti Fraue
Nach diesem Rausch bin ich - viel später als gewollt - in die Bibliothek gefahren. Ich lese gerade ein Buch in der Bibliothek. Das heisst, ich gehe immer dorthin, um es dort zu lesen, weil ich noch keine Bibliothekskarte habe und die Idee schön finde. Das Buch heisst Triste Tigre, Finalist für den französischen Prix Goncourt 2023 (Anmerkung: es hat nicht gewonnen). Es ist wunderschön, aber auch traurig. Ab fünf war die Bibliothek dann nur noch für Karteninhaber:innen geöffnet, und ich wurde freundlich vor die Tür gestellt. Ich wusste nicht, was ich aus meiner Zeit machen sollte und sehnte mich nach Weitsicht, also fuhr ich drei Mal über den Rhein. Jetzt wird's sehr lokalgeografisch; zuerst über die Mittlere Brücke, dann über die Johanniterbrücke und dann noch über die Dreirosenbrücke. Ich habe mir dabei ein Ranking der Basler Brücken überlegt. Ich bin unsicher, hier zuerst das subjektive Ranking meines Bruders:
1. Mittlere Brücke (schön, Charme)
2. Schwarzwälderbrücke (Auto, Zug, Fuss & Velo)
3. Wettsteinbrücke (schöne Aussicht, geile Konstruktion)
4. Johanniterbrücke
5. Dreirosenbrücke (ich hass d Dreirosbruck, si isch z lang, zu offe und zu breit)
Mein Ranking:
1. Johanniterbrücke (Weitsicht, Münster schön, aber trotzdem Nähe Frankreich)
2. Wettsteinbrücke (am epischsten um darunter durchzuschwimmen)
3. Schwarzwälder (in der Nähe von mir)
4. Dreirosenbrücke (Beste Weitsicht, Nähe Frankreich, Banlieu-Vibe, aber hässliche Bänkli)
5. Mittlere Brücke (zu tief, zu touristisch)
Was ist dein Ranking?
Nachdem ich genug lange bluesig auf der Dreirosen rumgehangen bin, die Industrie Richtung Frankreich oder das Riesenrad betrachtend, fuhr ich wieder ins Zentrum zu den Lichtern. Ich stellte mein Velo ab und liess mich treiben von der Menge. Die Lichter funkelten in meinen Augen, das Gequietsche liess mich schwärmen. Ich ertrank im Rambazamba um mich herum. Es ist schade, dass wir letzte Woche nicht auf die Butschauteli gegangen sind. Ich lief vorbei an der grossen Rutsche und musste an die bekannte Anekdote darüber in F.s Familie denken. Seine Mutter war am Tag vor seiner Geburt noch auf dieser Rutschbahn auf dem Münsterplatz gewesen. Da ist er wohl auch etwas runtergerutscht. Solche Anekdoten kursieren in seiner Familie viele und sie zeigen, wie sehr seine Verwandtschaft in der Stadt verankert ist, sich damit identifiziert. Ich lief weiter und dachte übers Alleinsein nach, wie immer wenn ich an einem Ort alleine bin, der nicht dafür gedacht ist. Letzten Herbst habe ich einen Text darüber geschrieben, es ging unter anderem um Bereal, aber den Teil lass ich jetzt weg, hier ein Ausschnitt:
Obwohl ich oft auch unter der Woche weg bin, habe ich immer noch diesen Drang in mir, am Freitag- oder Samstagabend irgendwas zu machen. Rauszugehen, Freunde zu treffen. Es ist schliesslich Wochenende. Diese Tage fühlen sich einfach anders an. Das Schummerlicht in meinem Zimmer ist trauriger. Die Luft vorwurfsvoller und ich kann meine Nachttischlampe nicht einfach um 12.00 Uhr ausschalten. Normalerweise würde ich an Abenden wie diesen - ich gebe zu, dass es nicht der erste ist - ins Kino oder Theater gehen, oder einfach mit dem Velo rumfahren. Mir richtig gutes und teures Essen kaufen. Viele Leute sind erstaunt, wenn ich ihnen erzähle, dass ich oft alleine irgendwo hingehe. Aber ich frage mich dann, ob sie immer Netflix schauen, wenn sie abends alleine sind. Oder nie alleine sind. Unsere Gesellschaft hat ein problematisches Verhältnis mit dem Alleinsein.
Es erklärt nicht alles, da einiges an Text vorausgeht. Aber kennst du das Gefühl? Unternimmst du gerne Dinge alleine in der Öffentlichkeit oder fühlst du dich als unerwünschter Eindringling?
Zurück uf‘d Mäss.
Ein Mann, der Karikaturen zeichnet - diese klar erkennbare, aber unglaublich verzehrten Angelina Jolies - zeigte auf meinen Kopf und sagte sehr selbstverständlich: „J‘aime bien votre coupe“ - Ich mag ihre Frisur. Ich bedankte mich herzlich. Seit du mir den Buzzcut geschnitten hast, bin ich sehr auf Bestätigung angewiesen. Dieses Kompliment eines wildfremden Franzosen, der nicht wusste, dass ich diese Frisur neu hatte, war die endgültige Bestätigung. Besonders da er sich mindestens semi-professionell mit Gesichtern beschäftigt. Ich entschied kurzum, mich von ihm zeichnen zu lassen. Das stimmt nicht, wäre aber das bessere Ende der Geschichte gewesen. Stattdessen lief ich weiter und da passierte nochmals etwas Erzählbares. Eine Gruppe Teenagermädchen lief auch mich zu und die vorderste fragte mich „Sorry, is this the Herbstmesse or the Fasnacht?“
Mit einem klaren Akzent, der zeigte, dass sie nicht Native Speaker ist. Ausserdem waren die zwei deutschen Worte ziemlich gut ausgesprochen. Ich gab ihr die richtige Antwort, schaute die Gruppe aber noch kurz mit einem skeptischen Blick an. Der hätte provozieren sollen, dass eines der Mädchen es nicht schafft, ernst zu bleiben und sich kichernd hinter ihrer Freundin versteckt. Doch das passierte nicht. Ich weiss bis jetzt nicht, ob es ein Witz war, und sie einfach sehr gut pranken konnten, oder ob es wirklich so loste Schülerinnen der International School gibt. Ich weiss aber, dass es viel lustiger gewesen wäre, wenn ich ganz trocken „Fasnacht“ gesagt hätte.
Ich glaube, ich sollte endlich auf deine Fragen eingehen. Wie du vielleicht merkst, schiebe ich es absichtlich heraus (ich bin auch längst nicht mehr am Handy) und schiebe dumme Anekdoten vor. Es liegt daran, dass die aus deinem wunderschönen Test resultierenden Fragen zu schwierig sind. Oder zu unangenehm, um darüber nachzudenken. Den Nagel auf den Kopf getroffen, wie man so schön sagt. Erst einmal das Geständnis vorweg: Der Amoreli-Adventskalender liegt schon unter dem Bett, und ja, es ist die etwas teurere Version, aber nein, es ich habe nichts dafür bezahlt.
Dein Problem der geteilten Zeit kann ich teils nachvollziehen, teils weniger. Grundsätzlich würde ich sagen, dass ich momentan eher viel Freizeit und deswegen auch kein Problem habe, mir genug Zeit zu nehmen für Freund:innen oder F. Mein oben zitierter Text zeigt ja auch, dass es Momente gibt, in denen ich lieber in Gesellschaft wäre, obwohl ich Me-Time zum Teil auch schätze. Was ich aber sehr gut verstehe, sind die besetzten Abende. Es gab Zeiten in meinem Leben, da hatte ich auch jeden Abend besetzt. Dieses volle Leben mochte ich sehr. Das war noch als Teenie. Während meines Studiums an der ZHdK wäre es mir hingegen nie auch nur in den Sinn gekommen, einem Hobby nachzugehen, dass mich an mehreren Abenden in der Woche verpflichtet. Zu unregelmässig waren die Zeiten, an denen wir auch abends etwas hatten. Die anderen wollte ich nutzen, um Konzerte hören zu gehen etc. Letztes Jahr, als ich als Klassenassistentin/Lehrerin gearbeitet habe, konnte ich endlich wieder etwas anfangen, wo ich 2-3 Mal die Woche fix Training hatte. Jetzt am Theater bin ich weniger eingespannt, aber ich schaffe es trotzdem nicht, jeden Mittwochabend in ein Training vom Unisport zu gehen. Viele Abende bleiben dann aber auch frei. Ich glaube, diese Kluft beschäftigt mich gerade sehr: Ich brauche regelmässigen Sport (besonders im Winter), damit ich den betreibe, brauche ich ein verpflichtendes Training. Ausserdem bewege ich mich lieber abends. Im Kulturbereich muss man aber abends arbeiten. Zum Teil. Deswegen bleibt es beim sporadischen Schwimmen, Joggen, Yoga usw. Ich wäre sehr gerne wieder aktiv in einem Verein tätig, aber das lässt sich einfach nicht vereinbaren. Ich glaube nicht, dass man im Kulturbereich seinen Job mehr lieben muss, da man mehr arbeiten muss - im Gegenteil, oft sind die Arbeitszeiten flexibler und es gibt grosse Lücken (Ich verallgemeinere hier die ganze Zeit, "Kultur" ist riesig, aber das ist, glaub, schon klar.) Aber es braucht mehr Commitment, da man nebenher keine Zeit hat, mit vollem Herzblut bei einer gemeinschaftlichen Sache (wie z.B. Verein) mitzuwirken. Dies lässt mich an meiner Zukunftswahl stark zweifeln. Es gibt immer wieder Termine, die unumgänglich sind, will man mit Ehrgeiz eine Sache erreichen.
Der Ehrgeiz bringt mich zu deinem nächsten Punkt: der Eifersucht. Ich denke, sie setzt einen gewissen Ehrgeiz voraus. Ich kenne sie sehr gut - das Nicht gleich gut Sein - weiss aber keinen guten Rat, damit umzugehen. Grundsätzlich denke ich, dass es möglich ist, sich aufrichtig für jemanden zu freuen und gleichzeitig trotzdem eifersüchtig zu sein. Ich freue mich, dass du etwas hast, will es aber auch. Oder sprengt das die Definition der Eifersucht? Ich glaube, um dem zerreißenden Gefühl der Eifersucht auszuweichen, rede ich mir oft ein, dass ich etwas gar nicht möchte. Irgend so ein Ausweich-Schutzmechanismus. Dieser lässt sich besonders auf den "Abbruch" meines Studiums auslegen. Ich kann mich jetzt uneingeschränkt für die Erfolge meiner auch singenden Freundin freuen, da wir ja nicht das Gleiche wollen. Aber mit dieser Methode kommt man nicht weit. Was der von dir genannte Wettbewerb betrifft, hatte ich ehrlich gehofft, dein Text würde auch genommen werden und auch mit meiner Nachricht an dich ziemlich lange gezögert. Aber ich habe auch das Amateurinnen-Privileg. Ich/Unser ganzes Umfeld weiss, dass du die bist, die schreibt, Deutsch studiert (hat), im Verlag arbeitet etc. Der Druck auf dir ist dadurch viel grösser. Weisst du, was ich meine? Würde ich jetzt sagen, ich will das alles auch, würde das Schreiben zu meinem genannten Ziel machen, wäre ich viel angreifbarer und verletzlicher. Diese Verletzlichkeit lasse ich nicht zu. Ich investiere mehr Zeit in Dinge, die ich nebenher mache. Der Wunsch des Erfolgs bleibt, aber die Möglichkeit des Scheiterns entfällt. Das ist unfair und feige.
Nun zum letzten Punkt. Es ist einfach unglaublich, wie du über deine Beziehung und S. schreiben kannst. Auch die Passage mit der übertriebenen Selbstverwirklichung als Schwäche. Das alles eigentlich. Einfach wow. Ich habe es so oft nochmals durchgelesen. Ich möchte nicht näher darauf eingehen, da du das alles so schön und klar formuliert hast, Chapeau. Ich kann nicht so gut darüber schreiben. Zu deiner Frage, ob ich etwas vermisse. Es ist eine schwierige Frage, bei der ich auch nicht weiss, wie sehr ich darauf eingehen möchte. Auch um F. zu schützen. Jedoch denke ich, dass mir momentan nichts fehlt, frage mich aber teils, ob mir irgendwann irgendwas etwas fehlen wird. Ähnlich wie du dich fragst, ob du je wieder diese komplett verlorene Verliebtheit erleben darfst. Wenn es sich ergibt, vermisse ich die Möglichkeit, einem Flirt nachzugehen, herauszufinden, was alles möglich ist. Ich mag Abenteuer, Drama und Ungewissheit eigentlich schon. Das komische Spiel mit dem Selbstwert. Wenn ich mich dann frage, ob es sich lohnen würde, dafür das aufzugeben, was ich jetzt habe. Hell no. Und vieles vermisse ich auch gar nicht explizit. Aber ich bin ja auch nicht mehr 17. Die einzige Wahrheit ist: Ich habe keine Ahnung, wie es wäre, single zu sein und hinterfrage das auch eher selten. Dafür habe ich zu viele andere Zukunftsfragen. Gleichzeitig verlasse ich mich gerne auf die Ungewissheit der Zukunft. Dieses Unwissen beruhigt mich. Aber jetzt noch, um etwas Spice reinzubringen, die heikle Frage: Kannst du dir vorstellen in deinem ganzen Leben nur mit einer einzigen Person zu schlafen? Vielleicht bin ich verdorben, aber ich glaube diese Frage beschäftigt mich mehr als der ganze Gefühlskram (Nicht als Affront gemeint). Auch weil wir immer frei sind in unseren Gefühlen, weil ich kein Problem habe, mich emotional zu binden. Weil ich eine geradezu abergläubische Sicherheit dabei empfinde. Aber das frage ich mich schon. Die klassische Sterbebett-Vorstellung, was würde ich bereuen? Omg, ich bin 23, Leute, die das lesen denken sich jetzt so wtf Mädchen, werde mal erwachsen und denk nicht ans Sterbebett. Jetzt ist langsam gut aber.
Es tut mir leid, dieser Text ist viel zu lang. Ich hätte noch tausend andere Gedanken. Aber heute gelingt es mir nicht, diese in eine schöne Form zu bringen, sie zu bündeln. Das zu tun, was Schreiben verlangt. Gedanken haben ist noch keine Kunst.
Mit dieser Weisheit entlasse ich dich in deine geistige Freiheit.
Alles Liebe und ich freue mich auf deine Antwort.
Deine Vera
PS: Ich habe nicht gekündigt, wie du weisst.
PPS: Um diesen ganzen Herbscht-Mäss-Kitsch hier abzuschliessen. Wir gehen am Sonntag noch einmal mit F.'s Familie und dann ist sein halbjähriges Göttimeitli dabei. Das verleiht dem ganzen Zirkus doch nochmals eine andere Dimension. Sie ist so ein knuffiges Schätzchen (und mag mich glaub). Ich freu mich so!!!!
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