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Liebe Michelle

  • Vera Rieger
  • 30. Okt. 2024
  • 6 Min. Lesezeit

(Du hast mich darauf angesprochen, dass ich dich eigentlich gar nie so nenne, vielleicht schön, das ist dein literarischer Name, dein Blog-Ich oder für mich Blog-Du)


Es ist kurz vor 7 Uhr morgens, ich bin schon eine Weile wach. Heute hätte ich ausnahmsweise bis halb 8 schlafen können, aber mein Körper hat sich entschieden, mich früher zu wecken und mein Kopf ist manchmal echt ein Morgenmensch. Es gibt doch so diese klassische Frage (besonders an Kunstschaffende), wann man am kreativsten ist. Dann sagen die meisten am Abend, scheint mir zumindest so. Ich kann das teilweise nachvollziehen, aber so krasse Phasen habe ich oft gleich nach dem Aufwachen am Morgen im Bett. Mein Kopf beginnt dann einfach so zu arbeiten, ich verbinde Wörter, denke Texte weiter, schreibe Witze oder plane Schullektionen. Letztens habe ich gleich nach dem Aufstehen eine Anfrage im Gruppenchat erhalten für eine Stellvertretung in einer Sportlektion. Dann bin ich aufs WC gegangen und habe dort die Stunde geplant, ich habe mir ein genaues Einwärmen mit Jasskarten mit 3 Phasen überlegt. Als ich wieder ans Handy ging, war die Stunde schon an eine andere vergeben. Ich hatte auch schon sonntags vor 9 Uhr einen ganzen Slamtext niedergeschrieben. Meistens bin ich in diesen Momenten aber zu müde, um mir meinen Laptop zu holen. Einiges kann ich mir merken für später und der Rest verfliegt. Dann hält mich mein rackernder Kopf einfach vom Schlafen ab. In schlechten Phasen sind diese frühmorgendlichen Gedanken sehr unproduktiv, also Sorgen, in guten Phasen aber zum Teil wirklich gute Ideen.

 

So, nun zu meinen Wochen. Ich weiss gar nicht genau, was so passiert ist. Ich habe mein Praktikum an der Sek angefangen, in Französisch ist es ganz gut, aber auch chillig, ich muss 3-mal die Woche die gleiche Lektion halten jeweils. In Musik ist es der grösste Witz, da meine «Paxislehrperson» (LP, bei der ich das Praktikum mache und mit der ich auch unterrichten und planen sollte) nicht ausgebildet und mega schlecht ist. Er macht einfach 35 Minuten Powerpoint-Frontal Unterricht (bei dem die Su*S nichts aufschreiben) und dann 10 Minuten singen, wo er zu laut Klavier spielt und herumschreit, da er auch ausgebildeter klassischer Sänger ist. Zum Teil halte ich mir heimlich die Ohren zu. Seine PPPs finde ich sehr spannend, aber das ist halt kein Unterricht. PH sonst okay, etwas sehr schulisch zum Teil (einmal wurden wir einfach vor die Türe gestellt, weil wir die Hausaufgaben nicht gemacht hatten, lol), aber ja sonst easy. F. hatte noch Geburtstag, wir haben eine sehr schöne Feier mit Freund:innen gehabt. Hier noch ein paar anekdotische Momente meiner Woche, die ich für den Blog aufbereitet habe:

 

Mittwochmittag: Ich komme gerade aus der Therapie und laufe voller Tatendrang in den Mister Wong. Da ist das Gefühl, dass ich mein Leben im Griff habe. Ich erinnere mich daran, dass ich früher oft Alltagsbeobachtungen aufgeschrieben habe. Bei einer kam auch der Mister Wong vor, das weiss ich noch.

 

Mittwochabend: Bin mit F. zum Comedy Open Mic im Balz, gehostet von Mateo Gudenrath, er ist mega gut. Wir lachen viel, die anderen sind so mid.


Donnerstagmorgen: Ich habe nach eineinhalb Wochen bei der Praktikumsschule ein Gespräch mit dem Leiter, da ich öfters verspätet war. («Es ist auffällig») Der Musiklehrer hat gepetzt. Das Credo ist: Es wäre schade, wenn es daran scheitert.


Donnerstagabend: Ich fahre weinend vom Training nach Hause, da wir Vollkontakt auf dem Kunstrasen spielen mussten mit unbekannten Trainern, die wir auch takeln sollten. Am Wochenende davor hatte ich zwei Spiele, ich war immer noch am Regenerieren.  Zudem hasse ich Männer taklen, es war zu viel. (Takle = meine Arme um ihre Oberschenkel schlingen). Ich muss lernen meine Grenzen zu kommunizieren, kann ich noch nicht so gut. Aber dann traue ich mich nicht, da ich Angst habe mimimi zu sein, dann nerve mich deswegen, dann nerv ich mich noch mehr, dass ich mich nerve etc. That old shit.


Jetzt ist schon Aufstehzeit. L. wartet gleich unten auf mich. Um noch auf deinen Brief von letzter Woche zurückzukommen: Gestern war ich mit ein paar Frauen vom Team im Sole Uno. Wir waren diese nervige kichernde Frauengruppe, die ständig von allen ermahnt wurde, wir sollten leiser sein. Es war lustig.

 

Die Kategorien:


Etwas zum Hören: «Hab Sex» von Zaho de Sagazan (I mean, excuse me)


Etwas zum Lesen: «Nöd us Zucker» von Lidija Burčak, in einem Schwung gelesen. Letzte Woche war ich ausserdem bei einem offenen Schreibworkshop mit der Autorin und sie ist ziemlich cool.


Etwas zum Glotzen: Mateo Gudenrath als Host beim Open Mic oder auch auf Solo Tour. (ab März, kommst du mit mir nach Solothurn?)


Etwas zum Essen: Bratkartoffeln mit Pilzen.


Wort der Woche: Captain Claire.

 

Alles Liebe

 

Vera





PS: Für Motivierte, hier der Text aus 2019, an den ich gedacht habe:


Mann mit Gitarre


Ich sitze im Mister Wong in der Steinen und esse mein trockenes Vegetable Fried Rice mit Messer und Gabel. Trotz Juni ist es kühl und die Strasse ist nass. Sicher unter der Regenplane lausche ich den schrummenden Akkorden des Mannes mit der Gitarre. Seine zarte Stimme höre ich kaum. Ich werfe ihm ein schüchternes Lächeln zu, welches er irgendwie, auch wenn nicht lächelnd, erwidert. Ein junges Pärchen, knappe 16-Jahre alt, geht vorbei. Ich habe mich schon immer gefragt, wie eine Beziehung in diesem Alter ist. Die ganze Stimmung schafft es, mich meinen schmerzenden Fuss beinahe vergessen zu lassen. Erinnert mich irgendwie an Blade Runner, obwohl ich Blade Runner hasse. Durchgehend Nacht und zu wenig Licht. Da wird man depressiv schon nur beim Filmschauen. Wir schauten diesen Film in der Schule, "weil er einer der besten ist", und ich war selten so sauer in diesem Etablissement wie dann. Muss was heissen.


Zurück zu meinem Fuss. Ich arbeite als Billetkontrolle im Theater Basel und da muss man jeweils um XX:50 und XX:10 da sein, um 40 Minuten zu arbeiten. Da mein Zug, -von dem ich schon lange weiss, dass er zu knapp ist- einfach stehen blieb kurz vor dem Bahnhof, dieses Opfer, und erst XX:50 ankam, musste ich mit dem Velo rasen wie eine Blöde. Und da hatte ich, als ich ein Taxi links überholen wollte, das erste Mal das Vergnügen mit nassen Tramschienen Bekanntschaft zu machen. Ich landete irgendwie verdreht auf dem linken Fuss. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte schlechtere Knochen und weniger Glück. Dann hätte ich etwas geschrien, wär nicht mehr aufgestanden und die Leute hätten der Ambulanz angerufen. Man hätte sich um mich gekümmert. Stattdessen halfen mir zwei nette Frauen auf, fragten mich, ob alles noch ganz sei, ich antwortete tapfer mit ja und schob die letzten Meter bis zum Theater. Da sagte man mir, es wären alle schon eingeteilt und ich könne wieder gehen. Danke aber auch. Nach einer kurzen Heulkrise auf den Toiletten des Kultkinos landete ich dann humpelnd hier im Wong für meinen Frustfrass.


Der Gitarrenspieler beendet seinen Song. Ich will klatschen, aber trau mich nicht. Das nächste Mal dann. In diesem Moment setzt sich ein grauer Mann mit wohlwollendem Gesicht neben mich. Ich bin zuerst etwas verwirrt, seh dann aber dass er zwei (alkoholfreie, opfer) Bier und zwei Gläser auf seinem Tablett hat. Als seine Frau dazustösst, fragt sie ihn zu wenig leise, ob sie nicht an den freien Tisch nebenan sollten. Wie charmant aber auch mir gegenüber. Danach fragt sie mich, ob sie nicht störten, ich schüttle den Kopf und das Paar setzt sich hin. Ich frage die beiden, ob sie kurz auf mein Sachen schauen könnten, damit ich rein, etwas Sweet 'n Sour Sauce kaufen gehen kann. Just als ich wieder rauskomme, wird mir bewusst, dass der Mann ein neues Lied angefangen hat. Mann. Nachdem meine Nachbarn ihr Essen bekommen haben (habe ich nicht, musste es selbst holen), erklärt mir der graue, dass das ihr Stammlokal sei und sie immer hier einkehrten, wenn sie zur Art nach Basel kämen. Wie baslerisch aber auch, ich frage mich wieso Steinen und nicht Gerbergasse oder Bahnhof. Ich erzähle ihnen, dass ich letztes Jahr auch da war, die Unlimited super fand, aber dass es halt sehr teuer ist. Die beiden lachen und der Herr sagt scherzend, ja, nichts unter dem 5-stelligen Bereich. Ich frage mich, inwiefern 50 Franken fünfstellig sind, bewege mich in meinen Gedanken irgendwo im Minusbereich oder im Hochminusbereich.


Erst dann begreife ich, dass er den Preis der Gemälde meint, ich den Eintrittspreis. Ich finde heraus, dass die beiden von Österreich sind, hören tut man's aber nicht. Wahrscheinlich gehobenere, dialektfreie Kreise. Unser Gespräch friert wieder ein. Mir wird bewusst, dass es angefangen hat zu regnen und die Musik verstummt ist. Ich schaue zum Gitarrenspieler und sehe, dass er mit eingepackter Gitarre und kleiner Tasche etwas unbeholfen dasteht. Dann geht er ab Richtung Bahnhof. Ich habe mir so sehr vorgenommen, ihm einen Fünfliber zu geben. Ich überlege mir, ihm nachzurennen. Das wäre ein schönes Geschichtsende gewesen. Stattdessen schaue ich ihm sehnsüchtig nach und esse meinen Reis fertig. Scheiss Art.

 
 
 

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