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Liebe Michelle

  • Vera Rieger
  • 24. Nov. 2023
  • 7 Min. Lesezeit

Zwei Dinge vorab: 1.  Jaaaa, nicht entschuldigen finde ich super. Lass uns uns nie wieder entschuldigen. 2. Wie cool, dass dein Text pink war, das hat echt gerade noch viel mehr Freude gemacht beim Lesen. Ich habe deinen wunderschönen Brief halbheimlich am Geburtstag von meiner - nennen wir sie Schwägerin - gelesen. Die mit dem Baby. Ich habe den ganzen Baby Talk nicht mehr ausgehalten; Sätze, die alle mit «Kinder..» beginnen und dann eine allgemeingültige Aussage über Verhaltensweisen von Kindern treffen mit so und so vielen Monaten oder Sätze, die mit «Weisch no» beginnen, bei der eine schon oft erzählte Anekdote folgt, die zeigt, dass früher alles genau gleich war wie jetzt nur in getauschten Rollen und sich alles immer wiederholt. Um aus dieser biederen Trivialität zu flüchten, habe ich mich dann in deine Gedanken gestürzt. Das hat gutgetan. 


Es ist schön, dass der Elefant jetzt nicht mehr im Raum steht und ich finde es auch schön, dass dein Fazit ist, dass du nicht zweifelst. Kopf voran hinein in den Spass. Ich habe mich sehr über deine Beschreibung von mir gefreut, obwohl ich mich zuerst gar nicht darin sah. Dass ich zu meiner Kunst stehen würde und du das von mir mutig fändest. Mein erster Reflex war zu fragen, welche Kunst? Vielleicht hast du recht, aber es gibt so viel, was ich gerne machen würde und nie mache und das Problem mit den Erwartungen kenne ich schon auch. Ausserdem muss ich sagen, dass ich dich beneide, da du genau weisst, was du willst. Natürlich ist der Weg dorthin mit sehr vielen Steinen belegt, die es aus dem Weg zu räumen gilt. Aber du weisst wenigstens, wohin der Weg führt. Ich habe keinen Plan. Strauchele herum und weiss nie, welche Abzweigung nehmen. Okay, jetzt reicht es mit schlechten Metaphern. Ich möchte einfach sagen, dass ich deine Klarheit in der Absicht sehr bewundere, auch wenn es dich verletzlich macht. Und ohne dich vertrösten zu wollen, aber die meisten Leute schreiben ihr Debut um die dreissig und du hast jetzt Anfang/Mitte Zwanzig schon zwei Volontariate hinter dir (die du beide mühelos gekriegt hast) und kennst viele Leute im Business. Das ist ja eh das Einzige, was zählt, wie wir beide wissen. Ich finde, du bist auf ziemlich gutem Weg. Das heisst nicht, dass ich dich nicht verstehe. Ich glaube, das sind die Dinge, die man selbst weiss, bei denen es aber trotzdem guttut, wenn an sie ab und an von aussen hört, falls man sich mal wieder fertigmacht. Falls das nicht der Fall ist, tut es mir leid. Du glaubst nicht, wie oft ich Bios lese von irgendwelchen Leuten und erleichtert seufze, wenn ich beim Jahrgang als erstes eine 1 sehe, da das bedeutet, dass ich ja noch Zeit habe, das zu erreichen, was die erreicht haben.


Die Frage, ob wir uns nun besser schriftlich als mündlich verständigen können, war keineswegs als Vorwurf gemeint. Es stimmt, dass es einfach eine ganz andere Art der Kommunikation ist. Ich habe versucht, deinen Gedankenanstoss zu der Frage der Performanz etwas weiter zu denken. Philosophisch würde ich diese Verwirrungen im Gehirn jetzt nicht unbedingt nennen. Aber ich kann sagen, dass ich tatsächlich glaube, dass wir immer performen, auch wenn wir allein sind, dass es sowas wie "Authentizität" gar nicht gibt. Ein paar Versuche, das zu bebildern mit Beispielen: Wenn ich allein bin, tanze ich oft sehr wild in meinem Zimmer herum und stelle mir dabei ein Publikum vor. Oder ich schwinge hochpolitische Reden. Gleichzeitig sind sogenannte Morgen- oder Abendroutinen, die man en masse auf Tik Tok finden kann, ja auch nichts anderes als Theater mit einstudierten Abläufen. Impulsiv würde es niemandem in den Sinn kommen, sich Essen zu machen, eine Kerze anzünden, im Kerzenschein zu essen, 15 Minuten "Good Night Stretch" auf Youtube zu schauen und nachzumachen, eine Gesichtsmaske aufzutragen, Zähne zu putzen, den Wecker zu stellen, das Handy wegzulegen, sich mit einem Buch ins Bett zu legen, das Licht auszuknipsen, zu schlafen (vielleicht). Über den Grad der Performanz muss hier glaub nicht diskutiert werden.


Jetzt noch ein kleines Geständnis, das zum Thema passt. Auf dem Velo führe ich sehr oft imaginäre Interviews. Dabei bin ich natürlich immer die befragte Person, die antwortet. Ich vollziehe diese Prozedur halb-innerlich mit passender Mimik oder – wenn die Nacht genug fortgeschritten ist – auf mit voller Stimme. Es ist mir schon etwas peinlich, dieses narzisstische Ritual hier zu offenbaren, aber vielleicht kann es ja auch als gratis Selbst-Therapie durchgehen. Falls ich in meinem Leben je ein Interview geben werden, bin ich bestens vorbereitet. Falls nicht, habe ich immerhin schon tausende auf dem Velo geführt. Das ist klar eine Performance, oder vielleicht sollte man es auch Probe nennen. Trotzdem würde ich sagen, dass ich komplett bei mir selbst bin. Wenn ich aber schweigend deprimiert durch die Theatergänge laufe und auf Menschen treffe, auf die ich keine Lust habe, eher weniger. Vielleicht gibt es so etwas wie "Authentizität in der Performance". Das Theater ist als Ort der Illusion der beste Ort, um dieser Frage auf den Grund zu gehen. Ist der Schauspieler, der vor mir auf der Bühne steht und als Kreon mit Tränen in den Augen über Leben und Tod entscheidet mehr in einer Rolle als der gleiche Schauspieler, der nach der Vorstellung vor mir an der Bar steht und mit coolem Béret, leicht schräg stehend, die Hände in den Hüften, freche Sprüche klopft und sich vom Regisseur Spacecookies geben lässt? Ich glaube nicht. Für die Bühne des Lebens proben wir halt schon unser ganzes Leben lang. Die Grenzen sind fluider und es gibt nie Applaus. 


Du hast mich gefragt, ob ich öfters melancholisch-traurige Tage habe. Im Herbst schon und ich glaube, bei mir ist es wirklich einfach wegen der Winterverstimmung und des fehlenden Lichts. Manchmal sind Tage aber auch melancholisch-schön. Oder einfach nur schön. Davon möchte ich dir heute noch erzählen; nämlich von der schönsten Joggingrunde meines Lebens. Letzten Sonntag (ja, es sind immer die Sonntage, aber Bürotage geben halt wenig Material her) musste ich so um vier unbedingt raus, da ich schon den ganzen Tag drinnen rumgehockt bin. Kurz davor zeigte sich auch zum ersten Mal an diesem Tag die Sonne, unser Wohnzimmer wurde vom warmen Licht geflutet, und ich wollte die letzten Sonnenstrahlen unbedingt auf meinem Gesicht spüren. Also habe ich meine Joggingschuhe montiert, ein dünnes Jäckchen geschnappt und bin rausgerannt. Draussen war ich erst enttäuscht, da gar keine Sonne mehr da war – ich vergesse manchmal, dass ich im fünften Stock wohne. Dann bin ich aber Richtung Rhein gerannt, und du glaubst nicht, welches Spektakel sich vor meinen Augen auftat. Die Böden waren nass, es muss also kurz davor geregnet haben. Dies hat zusammen mit der tiefen Sonne einen physikalischen Effekt ermöglicht, der alle Farben viel intensiver leuchten liess als sonst. Die Bäume der Birs entlang waren gelb, als hätte jemand einen Filter darübergelegt. Das Grün der Wiesen erinnerte an irischen Frühling. Das Wasser schimmerte so klar, dass sogar grau zu einer schönen und kräftigen Farbe wurde. Ich war überwältigt und rannte viel zu schnell. Ich fragte mich, ob dies nur meine persönliche Wahrnehmung war, car j’avais joui peu avant. Den Gedanken verwarf ich aber wieder. Bald schon hatte ich auf einer kleinen Brücke auch die Wärme der Sonne auf der Haut. Es war viel zu warm für Mitte November, ich konnte im T-Shirt joggen. Im ersten Moment war ich traurig, dass ich mein Handy nicht dabeihatte, um das Ganze zu fotografieren. Doch dann freute ich mich um so mehr darauf, dir es schreiben zu können. Wie cool ist das denn bitte? Die Geschichte ist auch noch nicht fertig. Ich bin dann über das Kraftwerk gerannt, wo fast alle Schleusen offen waren, da der Rhein so hoch war. Das tosende Wasser unter mir hat mir nochmals mehr Energie gegeben. Doch dahin komme ich später noch einmal zurück. Weiter ging’s Richtung Grenzach und ich muss zugeben, dass ich ziemlich viel gelaufen bin, also im schweizerischen Sinne des Wortes, um die Natur zu geniessen und da ich am Anfang zu schnell los bin. Nach der Grenze bin ich durch gelbe Weinberge einen kleinen Hügel hoch bis zu einem Aussichtspunkt. Der Wald roch gut und erinnerte mich an schöne Herbsttage mit der Pfadi. Vom Aussichtspunkt her sieht man unten auf die Rheininsel und über die ganze Stadt. Ich habe mir vorgestellt, bis nach Paris zu sehen. Auf dem Rückweg war ich glücklich und inspiriert. Ich erfand Geschichten, die nicht um mich gingen. Zurück beim Kraftwerk war es schon ziemlich dunkel und mir gegenüber hing das angeberischste aller Abendrote über Basel. Ich stand einfach nur da und staunte. Es war die Art von Schönheit, die einem im Gehirn Tore öffnet und daran erinnert, dass es mehr gibt als diese kleine Welt, in der wir uns täglich rumschlagen. Weisst du, was ich meine?


Normalerweise habe ich dies mit Düften. Düfte bringen mich raus aus dem jetzt an Orte, wo ich schon lange nicht mehr war. Sie erinnern mich daran, dass mehr da ist. Dass das Leben grösser ist. So auch dieser Moment. Der Himmel spiegelte sich in den Fenstern der Roche-Türme, was den Effekt verstärkte. Das Wasser unter mir schäumte immer von Neuem, ich konnte mich minutenlang in diesem Schaum verlieren. Da stand ich also viel zu lange auf dieser Brücke mit Tränen in den Augen. In diesen Momenten reut es mich, dass ich nicht zeichnen kann. Ich liebe visuelle Stimulation, aber es gelingt mir nicht, eine solche herzustellen. Vielleicht reichen auch Worte. Irgendwann musste ich mich losreissen, um zu eben diesem Geburtstag zu kommen, den ich oben erwähnt hatte. 


Ich glaube, ich muss jetzt aufhören. Mir ist gerade etwas schwindelig geworden, weil ich so fanatisch geschrieben habe mit dem Blick auf dem Bildschirm. Aber das hat sich auch gut angefühlt. Auf meinem iPad befindet sich noch ein Nachtrag zu einem Text von letzter Woche, aber mein iPad hat gerade keinen Akku. Es ist auch nicht so crazy. Es tut mir leid, dass ich hier nicht so viele (ah nein, nicht entschuldigen, note to myself). Also: Ich habe diesmal nicht so viele Fragen gestellt, aber ich bin sicher, du hast selbst viel zu erzählen und ich freue mich auf alles! Übrigens freue ich mich auf gewisse Dinge mehr, da ich weiss, dass ich dir dann davon schreiben kann, z.B. nerviges Familienweihnachten oder ähnliches. Das ist irgendwie schön.

 

Alles Liebe 

Vera 


PS: Ich habe einen Satz auf Französisch geschrieben, weil es auf Deutsch einfach keine schöne Ausdrucksweise dafür gibt und ich den Flow nicht unterbrechen wollte. «Jouir» bedeuet geniessen, auskosten, erfreuen, aber eben auch: zum Orgasmus kommen. Auf Deutsch gibt es nur «kommen», irgendwie lame und nicht literarisch. 


PPS: Am Samstag läuft zum (wirklich) letzte Mal «Wetten, dass?» mit Shirin David, Helene Fischer und Hazel Brugger als Aussenmoderatorin in Stans. Wie geil ist das denn bitte? Eigentlich sollte man das schauen. Diese Show erweckt in mir sehr klare Kindheitserinnerungen, darüber wollte ich noch schreiben, aber vielleicht nach der Show. 


 
 
 

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