Liebe Michelle
- Vera Rieger
- 28. Jan. 2024
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Feb. 2024
05:00 Die gleichen Gedanken kreisen seit einer Weile. Dann kann ich gerade so gut schreiben. Aber nicht über diese Hirnwürmer, die sind langweilig. Ich habe in meinem Kopf schönere Dinge für dich parat.
So, nach diesem - sagen wir poetischen - Anfang fange ich nochmals normal an. Danke für deine Post letzte Woche, ich durfte sie in den Bergen lesen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob du mich beim Hobby-Thema genau richtig verstanden hattest. Ich meinte nämlich auch, dass ich es zum Teil vermisse, einfach genau zu wissen, was ich will. Deswegen spüre ich zum Beispiel auch dir gegenüber einen Percy Jackson-Hype-Neid. Aber genug davon, manchmal habe ich das Gefühl, wir drehen uns ein bisschen im Kreis in unseren Briefe, oder ich zumindest drehe mich um die eigene Achse. Ich habe Lust, mehr thematisch zu werden oder „stories“ zu erzählen. (Das ist weder Entschuldigung noch Kritik) Es liegt vielleicht dran, dass ich ältere Blog-Versuche von mir gelesen habe, die alle so waren „haha lol xd, ihr glaubt nicht, was mir heute Dummes passiert ist, habe im Lift in die Hose gepisst“ oder so ähnlich. Da möchte ich nicht wieder hin, aber die Leichtigkeit ist schön. Eigentlich kann ich heute sehr konkret sein. Ich habe nämlich zwei Themen im Sack. Sie sind sehr unterschiedlich und das eine ist gewissermassen ein Geständnis. Vielleicht sprengt es den Rahmen, aber da ich ja, wie du schon angekündigt hast, in etwas weniger als einer Woche nach Indien gehe für einen Monat, muss ich jetzt alles hier reinquetschen. Ich werde vielleicht im fernen Osten diesen Blog als Reisetagebuch missbrauchen und je nach dem auch öfter schreiben, wenn das für dich okay ist, genau kann ich es dir nicht sagen. Es gäbe auch jetzt schon viel darüber zu erzählen, aber ich beschränke mich auf „ich freue mich“ und „es wird teuer.“
Da ich ja im Februar weg bin, verpasse ich ein sonstiges Jahreshighlight von mir: die Fasnacht. Darüber will ich heute schreiben, da ich in Indien hoffentlich an Anderes denke. Das habe ich tatsächlich schon sehr lange vor, eine Art Pro-Fasnachts-Plädoyer zu verfassen. Es ist vielleicht etwas früh, aber die Vorfasnachtszeit ist voll im Gange, deswegen passt das schon. Leider habe ich noch keine Blaggedde dieses Jahr. Du hast im letzten Brief geschrieben „Ich mag Grossanlässe“ und daran kann ich gut anknüpfen. Wenn ich von der Fasnacht schreibe, meine ich die drei Tage in Basel, also „die drey scheenschte Dääg“, das Unesco-Weltkulturerbe sozusagen. Es liegt bestimmt daran, dass ich sie schon von Kind an jährlich besuchte, der emotionale Wert übersteigt alles. Zu der Landfasnacht habe ich nie wirklich Bezug gefunden, aber viele Gedanken lassen sich allgemein auf Bräuche und Traditionen übertragen. Mich fasziniert zutiefst, wie eine ganze Kultur, in all ihren Ausprägungen, um drei Tage im Jahr kreisen kann. Fangen wir an mit dem Essen. Es ist klar, dass es vor der Fasnacht Faschtewäie, Fasnachtskiechli und Schenkeli gibt. Übrigens: kleiner kultureller und sprachwissenschaftlicher fun fact, den ich letztens gelernt habe: Der Schmutzige Donnerstag (der hier nicht unbedingt wichtig ist, sondern eher im Schwabenland, aber alles ist mit allem verbunden) heisst so, da in dieser Zeit fettige Dinge gegessen werden, anscheinend bedeutete „Schmutz“ früher „Fett“. Dann an der Fasnacht selbst gibt es Käsewähe, Mählsuppe und Zwibelewäie (Ich bin unsicher, welche Worte ich in Dialekt schreiben soll, das wird noch etwas weiter gehen) Mit den gemalten Laternen, Larven und Kostümen sind viele Bereiche der bildenden Kunst abgedeckt, Schnitzelbängg sind das Pendant zu Stand up oder Poetry Slam (oder umgekehrt), auf den Zeedel gibt es geschriebenes Wort, die Vorwasnachtsveranstaltungen sind Cabaret, Musical und Theater und dann die Musik. Diese Stadt hat einfach eine eigene Musik, einen eigenen Klang. Die meisten Menschen sind sich einig, dass Piccolos eigentlich nervtötend klingen. Aber an der Fasnacht akzeptieren wir sie trotzdem. Das ist übrigens ein Lebens-To-Do von mir: Pfeifen lernen, arme Nachbarn, das geht auch nur in Basel. Das Krasse ist ja, dass der Rahmen immer genau gleich bleibt, sich exakt wiederholt und nur in den sujets, die das Weltgeschehen reflektieren, ist Veränderung zu sehen. Deswegen gibt dieser Brauch so viel Halt: Die Welt ist verrückt, dreht immer schneller und da ist dieses alljährlich wiederkehrende Gerüst, das gegen alles standhält, an dem wir uns hangeln können, auf die Welt schauen und dabei sehr viel Alkohol trinken. Nun möchte ich dem Spektakel aber nicht unkritisch gegenüber stehen. Fasnacht ist und bleibt hochpolitisch, in sich selbst, aber auch als Brauch gegen aussen. Die Kritik an Cliquen oder Guggen mit rassistischen Namen oder Sujets ist äussert notwendig und der grosse Widerstand, beziehungsweise die Verweigerung zur Veränderung höchst problematisch. Ich weiss, dass es ein Milieu ist, dass durch das Bestehen auf der „Narrenfreiheit“ ein Nährboden für Sexismus, Rassismus, Homophobie etc. ist und möchte dies überhaupt nicht beschönigen. Ich glaube, es ist einfach wichtig zu verstehen, dass die Verfechter:innen der Tradition eine heterogene Gruppe sind, es ist nicht alles primitiv, es gibt viele linke sujets. Und historisch darf nicht vergessen werden, dass es auch ein Anlass war für die Unterschicht sich gegen die Aristokratie satirisch aufzulehnen. Nun sind diese viele Einzelheiten aber gar nicht der Grund, wieso ich diesen Anlass sehr feiere, beziehungsweise wieso ich grosses Potenzial darin sehe. Es ist das Treiben auf der Strasse. Ich mag Anlässe, die draussen stattfinden und offen für alle Leute sind. Es gibt kein Fest, das es eine grössere kulturelle Vielfalt an Besuchenden aufweist. Von dem her sehe ich auch ein grosses integratives Potenzial. Die Fasnacht für die Aktiven mag sehr exklusiv sein, aber am Strassenrand ist Platz für alle. Kein queer-feministischer Salon, keine anti-rassistische Lesereihe, kein Podium für kulturellen Austausch vermag es, so viele verschiedene Leute zusammenzubringen. Da kann es auch mal knallen, da es doch noch viele inoffiziellen Regeln gibt, die vielleicht nicht alle kennen. Es ist bestimmt kein safe space und ich kann auch nur für mich sprechen und meiner eigenen Erfahrung. Aber ich glaube, die Fasnacht ist sicher mehr für alle als z.B. das Theater Basel, egal wie viel Geld dort hineingepumpt wird und wie sehr sie sich bemühen. Dies ist allgemein ein Punkt, welchen ich schwierig finde. Es gibt in der künstlerischen Leitung dieser Institution eine absolute Ignoranz gegenüber dem Brauch und allem, was damit einhergeht. Allgemein wird die lokale Volkskultur sehr von oben her betrachtet und als nicht gleichwertig der selbst praktizierten Hochkultur gewertet. Ich finde, durch solche Distinktionen geht sehr viel wertvoller Austausch verloren. Nun möchte ich die vielen Gedanken mit einem Zitat von Kim de l‘horizon abschliessen. Es hat bedingt damit zu tun, aber ich muss immer wieder daran denken. «Körper wie ich repräsentieren die pure Freiheit. Wir sagen: Guck mal, du kannst jeden Tag entscheiden, wie du dich anziehen willst. Darauf hätte eigentlich viele Menschen Lust: Deshalb gibt es Karneval und 1980er-Jahre-Partys. Aber wir verdrängen diese Lust in temporale Räume ausserhalb des Alltags.» Ich kenne das Gefühl, in einem Kostüm sich wohler zu fühlen als in Alltagskleidung.
Da du noch nie am Morgestraich warst (Skandal): du musst unbedingt dieses Jahr für mich dahin. Es ist magisch, wenn um Punkt 4 Uhr morgens die Lichter ausgehen und der namensgebende Marsch (fast) zeitgleich von allen Ecken ertönt. Ich übernehme dann die Gänsehaut, den Rausch und das kleine verdrückte Tränchen. Mein Lieblingsmoment ist aber spät nachmittags kurz nach dem Cortège, da flirrt die ganze Stadt. Kleine Kinder wühlen in angfeuchteten verschiedenfarbigen Konfettihaufen. Ein kurzes Innehalten, bis es im Dunklen zauberhaft weitergeht. So viel hoffnungslose Romantikerin muss.
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Also das zweite Thema könnte verschiedener nicht sein. Aber es knüpft an deinen letzten Brief an. Ich habe seit vorgestern eine ADHS-Diagnose. Die Abklärung habe ich letzten Herbst begonnen, aber niemandem von euch davon erzählt. Dafür muss ich etwas ausschweifen. Den Verdacht hatte ich schon länger, schon bevor du und unsere andere Freundin eure Diagnosen erhalten hattet. Ich will nicht darauf eingehen wieso. Menschen, die mich kennen, können es sich vorstellen und das Thema langweilt mich ehrlich gesagt auch, ich finde es ausgelutscht. Ich möchte ausführen, wieso ich sehr lange damit gewartet habe, bzw. was es mit mir gemacht hatte, als du diese Diagnose erhieltest. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich in der Gruppe die war, die Dinge nicht im Griff hatte, das Mess halt. Ich war die Zu-Spät-Kommerin, die Dinge-Vergesserin, die Dinge-Verliererin. Ihr habt ja immer Witze gemacht darüber, dass ich so viel Glück hätte, da oft von mir verlorene Dinge wieder zum Vorschein kamen. Das war aber nur ein Bruchteil und ich fühlte mich auch oft verarscht, da es natürlich nicht Glück, sondern meine Mühe war, das ich gewisse Dinge wieder fand. Den Rest erzählte ich selten, da ich mich schämte. Scham war sehr präsent. Ich weiss nicht, ob du dich erinnern kannst, aber ihr habt mal ein Lied über mich gedichtet, als wir etwa 16 waren, ich glaube zu der Melodie von „Dr Ferdinand isch storbe“ (nicht mehr ganz sicher), welches darum ging, wie messy ich bin. Das Lied war liebenswürdig, ich fand es lustig und fühlte mich auch etwas geehrt. Vieles konnte ich mit Humor nehmen, aber oft fühlte ich mich auch gejuged. Nicht von allen. Ich sehe die verdrehten Augen, ich höre das geschnalzte Seufzen. Entschuldigen ist einfach Standart, es ist einfach klar, das der Fehler bei mir liegt. Als du also diese Diagnose erhieltest, fühlte ich mich verarscht. Denn auch von dir habe ich oft Unverständnis gespürt. Mein ADHS hat mich nie akademisch gehindert, sondern immer nur in der Bewältigung des Alltags. Deswegen schloss ich mich unterbewusst vielleicht auch der Meinung an „Wenn‘s nicht mehr läuft, muss halt eine Ausrede her“. Das tut mir leid, denn heute sehe ich das alles sehr anders. Ich kann verstehen, wieso du die Abklärung gemacht hast, kann die Diagnose nachvollziehen und mache dir auch keine Vorwürfe mehr. Puhuhu tension ist ummen, immerhin. Gewissermassen begab ich mich damals auch in eine Trotzhaltung. Ich brauche dieses label nicht. Ich habe oft gedacht, wenn ich das jetzt auch noch mache, denken sich die Leute, lol, jetzt macht die das auch noch. Aber das ist mir jetzt auch egal. Ich brauche einfach irgendeine Hilfe, um Dinge normal erledigen zu können, meine Kosten für unnötigen Bullshit sind zu hoch, gestern hatte ich wieder einen Bürokratie-Break Down, meine durchschnittlich verbrachte Zeit in Lebensmittelläden beträgt etwa eine viertel Stunde, um eine Zitrone zu kaufen, da ich zwanzig Mal hin und her laufe. Meine Meinung gegenüber dieser Abklärung hat sich aber nicht geändert. Ich kann hier sagen, dass ich wirklich versucht habe, die Fragen ehrlich zu beantworten. Aber alle, die eine ADHS Diagnose wollen, kriegen eine. Es ist sehr einfach.
Nun, das war‘s, ich bin auch im Club, check :) Es fühlt sich erleichternd an und ich hoffe auf Besserung durch eine Form von Therapie.
Ich hatte noch die Idee, so Rubriken einzuführen für Kulturtipps oder ähnliches. Mein Vorschlag wäre, etwas zum Glotzen, etwas zum Lesen, etwas zum Hören und etwas zum Essen.
Etwas zum Glotzen: Basic, da in aller Munde, aber der Film „Anatomie d‘une chute“ hat mich beflügelt und mir Lust gemacht auf intellektuelle Stimulation.
Etwas zum Lesen: Habe ich in letzter Zeit sehr vernachlässigt, muss ich gestehen, deswegen sage ich hier: diesen Blog ;)
Etwas zum Hören: Habe heute den Hair-Soundtrack wiederentdeckt. Da ich nach Indien gehen deswegen passend: „Hare Krishna“ von Hair. Das Solo im Hintergrund though.
Etwas zum Essen: Kartoffelsuppe mit Trüffel. Gibt es immer gratis nach Premierenfeiern am Theater Basel. Nummer 1 Insidertipp.
So genug. Bis bald, gestern „Let the sushine“ auf dem Fahrrad gegrölt und heute scheint die Sonne.
Alles Liebe und bis bald. Ich freue mich auf deine Gedanken (und beruflichen Höhenflüge!)
Vera



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