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Liebe Michelle - Weihnachtsbrief (Roman)

  • Vera Rieger
  • 26. Dez. 2023
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 2. Jan. 2024

Das ist die schnellste Antwort in der Geschichte unserer Korrespondenz. Damit das Universum wieder in Gleichgewicht gerät nach deiner langen Verspätung. Spass. Ich war dir natürlich nicht böse, mit Verspätungen kenne ich mich mehr als gut aus. Es tut mir leid, dass du so Stress hattest und hoffe, dass du über die Festtage etwas ausspannen kannst. Dezember ist einfach selten zauberhaft, egal wie viele LEDs überall herumhängen. Ohne deinen Stress negieren zu wollen, habe ich mich aber auch schon beim Gedanken ertappt, dass die Weihnachtstage selbst gar nicht so gemütlich wären, wenn die Zeit davor nicht von Stress geprägt ist. So wie die heisse Badewanne sich besser anfühlt nach 2 Wochen im Zelt frieren. Weisst du, was ich meine?


Aber am 25. tritt gar eine Erstarrung des öffentlichen und gesehenen Lebens ein. Das macht mir manchmal etwas Angst. Alles verschiebt sich ins Häusliche, es werden klare Grenzen gezogen. Du bist draussen oder drinnen. Die Heiligkeit von Feiertagen ist eine der ersten traumatischen Erfahrungen meiner Kindheit. Eltern von Nachbarskindern, die sauer auf mich waren, weil ich auch an Weihnachten oder am Sonntag mit ihren Schützlingen draussen spielen wollte. Das ist echt so ein Gefühl, das ich nachempfinden kann - nicht an der Türe klingeln dürfen, oder beschimpft zu werden, weil ich es trotzdem tat. Meine Mutter erzählt immer, dass sie froh war, dass wir, als ich sehr klein war, Zeugen Jehovas als Nachbarn hatten. Das war wohl der einzige Vorteil. Ich bin etwas abgeschweift. Deine Weihnachtstage klingen auch nicht gerade gemütlich. Eher wie eine Weihnachtsodysee. Aber mit deinem Bruder zusammen werdet ihr diese sicher gut meistern. Das hat doch auch etwas Verbindendes, zusammen auf so eine Reise geschickt zu werden.


Bei mir ist es sehr anders. Obwohl alle meine Grosseltern noch leben, werde ich gar nicht mehr mit meiner Familie im grösseren Sinne feiern. Mit der Familie von meinem Vater - die aus der Ostschweiz - haben wir sowieso nie gefeiert - manchmal sind wir am 26. oder so noch rausgefahren, aber das ist irgendwie nicht das Gleiche, dann waren wir auch nicht mit allen zusammen. Auch dieses Jahr fahren wir am 26. in die Ostschweiz, aber wir sehen sie für ein Essen im Restaurant und dann gehen wir noch eine Nacht ins Hotel, höhö. Auch beim anderen Familienzweig wird nichts mehr gemacht, schon einige Jahre nicht mehr, jetzt sind meine Grosseltern im Altersheim, aber auch davor war es irgendwann nicht mehr selbstverständlich. Als ich klein war, war's schon cool, aber es wurde schon bald unchillig mit meinem Grossvater, der die Bibel auf Baselbieterdeutsch vorlesen wollte, der irgendwann ein Streit mit der (von der Familie natürlich nie klar deklarierten) Partnerin meiner Grosstante anfing, die er aus homophoben Gründen nicht mochte, komische Onkel u.s.w. Da wurde viel vorgespielt für uns Kinder. Deswegen mochte ich Weihnachten schon bald einmal nicht mehr. Die heile Welt war schnell durchschaut. Vielleicht liegt das auch an der Grösse der Familie. Mit 16 Cousins und Cousinen (als Kind war das so ein Flex, weswegen ich es auch so genau weiss) haben sie einfach einen anderen Stellenwert. Es ist ein komisches Gefühl, aber ich weiss, dass ich einige von meiner Mutterseite an einer Beerdigung das nächste Mal sehen werde. Deswegen bin ich jetzt am Heiligabend bei F. (wo dieser noch so genannt werden muss) im kleineren Kreis. Da gehöre ich schon zur zweiten von 4 Generationen - Meilenstein erreicht im Leben, würde ich sagen.


Sonst bin ich einfach mit meinen Eltern und meinem Bruder. So dark wollte ich gar nicht werden, eigentlich wollte ich dir nämlich vom besten Weihnachten meines Lebens erzählen. Aber zuerst möchte ich noch auf deine Fragen eingehen. Jetzt wird es schon wieder etwas deep, aber du hast diese Fragen gestellt, deswegen bist du selbst schuld. Wie hält man den Zustand aus, dass man weiss, dass es viele Leute gibt, die mit Todesangst auf den nächsten Bombenangriff warten, in der Hoffnung nicht getroffen zu werden, während wir um den Weihnachtsbaum tanzen? Ich weiss es nicht. Die ehrliche Antwort ist aber auch, dass ich mich in letzter Zeit wieder weniger mit den Konflikten beschäftigt habe und sie somit auf mich keinen Einfluss mehr hatten. Ich war so stark mit eigenen Lebensfragen und meinem Gemüt beschäftigt (hatte ich ja schon etwas ausgeführt), dass das andere gar keinen Platz mehr hatte. Es war ein sehr egozentrischer, narzisstischer Zustand. Einzig habe ich mich sehr über deutschen Journalismus (ich beziehe mich hauptsächlich auf die ZEIT, da ich diese im Print habe, aber auch auf andere Medien) aufgeregt. Ich hatte das Gefühl, es ging nicht mehr darum zu berichten, was passiert oder wieso etwas passiert, sondern nur noch darum, wer was wie worüber denkt. Hunderte Kolumnen und Interviews, die wiederholten, wieso jetzt eine gewisse Meinung antisemitisch und wie das alles einzuordnen sei. Es ist wirklich ätzend. Dieses westlich links-intellektuelle Meinungsgekotze. Ich weiss jetzt, was Greta Thunberg denkt, und warum das typisch ist für grüne Bewegungen und wieso alle Deborah Feldmann haten, und so weiter. Aber was wirklich passiert, die wirklichen Gründe sind mir immer noch verschleiert. Deshalb habe ich eine Bitte an dich. Kannst du mir ein gutes Buch zum Thema empfehlen? Im letzten Monat war ich keine gute Leserin mehr. Aber ich verspreche, es zu lesen. 

 

Cut. Den ersten Teil habe ich am 23. geschrieben, als ich von Zürich aus aus Versehen in den falschen Zug gestiegen bin und plötzlich im Bündnerland war. Hoppla. Da hatte ich viel Zeit zum Schreiben, irgendwann wurden mir meine eigenen Gedanken aber zu mühsam. Wie du gesagt hast, kann einem Schreiben manchmal auch herunterziehen, da man alles dramatisiert. Ich lasse meinen Brief aber trotzdem so, sorry. Heute ist der 26. Ich bin mit meinen Eltern und meinem Bruder in einer kleinen Air-BnB Wohnung in der Ostschweiz (nicht Hotel, wie ich gedacht hatte, lol), am Mittag waren wir mit der kinderreichen Familie meines Göttis zum Essen verabredet, dann gingen wir noch baden. Das war einigermassen lustig. F. ist krank zu Hause. Weihnachten kam dann schliesslich etwas anders. Ich habe nur mit F.'s Familie gefeiert, gestern Morgen habe ich noch im Gottesdienst einer befreundeten Organistin gesungen (gratis Komplimente von netten Leuten & easy Cash), dann war ich am Nachmittag mit meinen Eltern spazieren und Punsch trinken (eine schöne Abendstimmung) und bin um halb neun nach Hause gegangen. Dort bin ich endlich wieder mal weit gejoggt. Ich mag es, normale Dinge zu unnormalen Zeitpunkten zu tun. Es war wunderschön, bei Vollmond der Birs entlang. Apropos, verbindest du irgendetwas mit dem Vollmond? Glaubt du an seine Wirkung aufs Gemüt? Der Vollmond ist eines der einzigen esoterischen Symbole, bei denen ich Mitgefühl habe. Die Kraft, Meere zu bewegen, fasziniert mich, da akzeptiere ich den Gedanken, dass er vielleicht auch mit uns was macht. Es scheint mir auch ein bizarrer Zufall, dass der Mondzyklus mit dem durchschnittlichen Menstruationszyklus übereinstimmt. Da gibt es natürlich wieder Studien dafür und dagegen. Die ausführlichste negiert den Zusammenhang. Ansonsten finde ich den Mond einfach wunderschön. 

 

Nun möchte ich noch auf die Fichenaffäre eingehen. Ich hatte noch nie davon gehört, fand es aber sehr spannend und habe etwas recherchiert. Mein Bruder hat für seine Maturarbeit über Antikommunismus in der Schweiz zur Zeit des Kalten Krieges geschrieben. Dank dir habe ich endlich seine Arbeit gelesen! Als Fallbeispiel diente ihm die Baselbieter Dichterin Helene Bossert aus Sissach, die aufgrund einer Reise nach Russland ihren Job und ihr Ansehen verlor ohne selbst den Kommunismus zu propagieren (um 1955). Dafür hatte er auch Einblick in ihre Fiche. Es ist schon sehr erschreckend, wie innerhalb des antikommunistischen Klimas in der Schweiz jegliche Linke Bewegungen, so zum Beispiel auch die Anti-AKW-Bewegung oder Frauen/Friedensbewegung als Staatsfeinde abgestempelt wurden. Dieser Generalverdacht ermöglicht wenig politischen Spielraum. Falls du mir auch in diesem Bereich ein Buch empfehlen möchtest, sehr gerne! 

 

Ich möchte dir eins ihrer Gedichte hier zitieren. Es geht um die Frauenfriedensbewegung. Es ist eine Bewegung, über die ich mehr erfahren möchte, von der wir in der heutigen Zeit viel lernen können, glaube ich. Es ist natürlich sprachlich aus der Zeit gefallen, aber die Message finde ich schön. Ihre Gedichte sind in Mundart. 

 

Rottet ech zäme

Müettere —

Fraue der ganze Wält,

ob wyß,

ob schwarz

oder gääl:

Rottet ech zäme

und wehret dämm Wahn,

's gab wider Chrieg

ob churz oder lang.

Sy mer au numme schwach

und gring,

mir säge nei

und nonemol nei!

 

Müettere —

Fraue der ganze Wält,

Ob wyß,

ob schwarz

oder gääl:

Heit echs vor Auge

und 's cheem eso wyt,

so sy mer verlöre,

's nüfet is nüt.

Und eusi Chinder

gibore

mit Schmärze,

es sinnlosis Pfand.

 

Müettere —

Fraue der ganze Wält,

ob wyß,

ob schwarz

oder gääl:

Dr wüsset alli

was gschlage het. —

Mer wei keini Bombe.

Mer wei Brot!

Mer wei der Fride.

D'Angscht

die mues fürt.

Rottet ech zäme!

 

Helene Bossert.

 

Zu guter Letzt mein Vorhaben vom Anfang. Dir meine schönste Weihnachtserinnerung zu erzählen. Das habe ich schon vor, seit wir diesen Austausch hier haben. Es geht auch um einen Austausch; als ich 2016 ein halbes Jahr in Frankreich war. Über diese Zeit könnte ich viel erzählen, es war eindrücklich, emotional belastend, mal lustig, oft anstrengend - sicherlich viel Chaos. Aber ganz am Anfang sagte mir meine kamerunische Gastmutter, dass ich das beste Weihachten meines Lebens feiern würde - und sie sollte recht behalten. Sie kochte sonst sehr viel, wiederholte aber überzeugt, dass es Tradition sei, dass sie an Weihachten keinen Finger rührt. So wurde das Essen am Tag selbst vom Caterer gebracht. Viel Essen! Wir feierten am 24., den Tag über trudelten die verschiedensten Verwandten und anderen Familienzugehörige (Austauschschülerinnen) ein, aber bis die Letzten kamen, war es bestimmt 10 oder 11 Uhr nachts (Grosses Drama, da diese eine Familie immer zu spät war). So hatte ich wenigstens genug Zeit, mich hübsch zu machen, was natürlich erwartet wurde. Also assen wir so um 12 vielleicht. Ja, es gab Schnecken. Ich fand sie so so lala. Als Hauptspeise assen wir Wachteln. Die waren wirklich super lecker. Ich erinnere mich aber besonders daran, dass wir nach dem Essen und dem Fotoshooting Karaoke sangen, erst Jaques Brel und so und dann Musik aus Kamerun. Ich hatte nicht übermässig, aber schon etwas Crémant intus, der mir dabei half, im engen Wohnzimmer bis in die Morgenstunden durch die ganze Nacht zu tanzen. Am nächsten Tag schlief ich mindestens bis 1 und die folgenden Tage verliefen so, dass wir lange schliefen, Resten assen, besonders viel Ferrero Rochers in uns hineinstopften und in der Nacht das Brettspiel Risiko spielten. Auch mal bis zwei oder drei oder vier Uhr. Seit dann habe ich nie mehr ein Gesellschaftsspiel mit so viel Elan gespielt. Danach ging es nach Paris für Silvester. Aber das ist nochmals eine andere Geschichte. Hiermit ende ich meinen langen Brief, es ist für dich viel Wiederholung am Anfang, aber ich habe es der Vollständigkeit halber drin gelassen. Das nächste Mal werde ich dir im 2024 schreiben. Ich freue mich sehr aufs neue Jahr, auf deine Antwort und auch meinen ersten Brief im neuen Jahr. Den werde ihn dann mit viel New Year, New Me Kitsch füllen. 23 Dinge, die ich 2023 gelernt habe, oder so. 24 Resolutions for 24. In diesem Sinne: 

 

E Guete Rutsch. Glücklicherweise werden wir ja zusammen rutschen. Ich freue mich! 

 

Alles Liebe 


Vera 

 

 
 
 

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