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Liebe Vera

  • Michelle Harnisch
  • 20. Okt. 2023
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 1. Jan. 2024

Danke, danke, danke für deinen Text. Er war schön und klug und an Stellen vielleicht weniger klug, aber dafür umso schöner. Ich merke immer wieder, wie sehr ich das schätze, dass wir eine Freundschaft haben, in der wir uns genügend verwundbar machen können, um uns Texte zu schicken. Dinge, die aus unserem Kopf auf Papier, meistens auf eine Tastatur, geflossen sind. Wie cool ist das denn bitte? Natürlich bleibt da ein Rest von Performanz und Aufgesetztem, sobald was schriftlich wird, aber ich schätze das Vertrauen wirklich.


Also, bevor ich auf all deine Punkte eingehen möchte, muss ich dir meine Situation schildern: Seit Mittwoch bin ich in Frankfurt auf meiner ersten Buchmesse. Crazy! Mein ursprünglicher Plan war es, heute vom Messegelände direkt zum Bahnhof zu fahren, in meinen Zug zu steigen und durchzufahren bis nach Basel. Aber, ohne mich jetzt in Klischee-Ärger zu verrennen, die Deutsche Bahn bleibt die Deutsche Bahn und hat Verspätung. Jetzt sitze ich in der sogenannten Frankfurter Markthalle, ein amerikanisch angehauchter Foodcourt mitten im Hauptbahnhofsgebäude (also gar keine Halle), und sitze in einem Geruchsdunst aus Burger King, Nordsee, Thaiwok und Ciao Bella (ich denke bei den letzten zwei Schuppen ist es selbsterklärend, wie du sie dir vorstellen musst). Entschieden habe ich mich für ein fettiges Stück Pizza von letzterem, das 2 Euro gekostet hat und kalt an meinen Tisch gebracht wurde. Dazu ein kaltes Vio Medium Wasser mit Kohlensäure, von dem ich gleich einen grossen Schluck genommen hab und weswegen ich jetzt mit Schluckauf zu kämpfen habe. Meine Anzugshose, die ich die letzten drei Tage aus Professionalitäts-Gründen getragen habe, sammelt auf dem fettigen Plastikstuhl Flecken, die ich wohl nur mit Spezialmittel wieder rausbringe. Zum Glück habe ich meinen schönen Blazer, den ich extra für die Messe gekauft hab – den kann ich ja bestimmt wieder einmal brauchen – nicht mehr an, sonst wäre auch der voll mit Erinnerungen an frittierte Garnelen in einer recycelten Kartonbox, deren Boden beinahe durchsichtig ist. Eigentlich versuche ich, mich mit Taylor Swift und sonstiger Popmusik zu berieseln nach diesem ganzen Messetrubel, doch jetzt habe ich die Lautstärke hochgedreht, um die immens-laute Lüftung neben meinem Tisch zu übertönen. Der oberste Knopf meiner Bluse geht immer wieder auf, sodass ein Streifen meines blauen BHs zu sehen ist, und ich möchte nur noch Hause.


Die Messe war gut. Sehr gut sogar. Aber auch gross, so gross und ein wenig überfordernd. Man sieht all die Leute, die so gerne Bücher machen, verlegen, übersetzen, korrigieren, liefern, bewerben und spürt diesen gemeinsamen Puls der Branche. Aber man ist auch mit der schieren Menge an Output konfrontiert, fragt sich, wer denn die eigenen Bücher überhaupt kaufen soll. Wer soll das denn alles lesen? Der Carlsen-Stand zum Beispiel, der übrigens grösser war als die Wohnung, die ich mit meiner Mitbewohnerin teile, war zu einem Viertel bedeckt mit Harry Potter Emblemen. Eine Nachstellung der Treppe aus der Dursley-Wohnung, darunter eine Kammer voller Harry Potter Bücher, tausend verschiedene Versionen und Ausgaben. Krass, was für ein Impact eine einzelne Buchreihe haben kann. Carlsen hatte ausserdem gleich mehrere Cash Cows, wie wir sie immer genannt haben, an ihrem Stand. Connie und die Maus gehören ihnen ebenfalls. Von einem solchen Line-Up, das ständig Geld reinbringt, kann ein kleiner Verlag wie der, in dem ich momentan arbeite, nur träumen. Sonst war es aber sehr schön. Ich habe viele interessante, belesene, kluge Menschen getroffen. Viele interessante, belesene, kluge Frauen. Perfekte Voraussetzungen fürs Imposter-Syndrom, das ich mir schon so lange abzugewöhnen versuche. Ja, aber im Grossen und Ganzen war die Messe zwar stressig, aber sehr schön. Eine Übersetzerin, mit der wir uns getroffen haben, eine alte Häsin, mega begnadet, mega gut, mega sympathisch, meinte, das sei ihre 51. Buchmesse. Wie krass ist denn das bitte schön? Beim Abschied sagte sie zu mir: „Ich wünsche dir noch 50 weitere Buchmessen, bis dir das auch alles zu viel ist.“ Ich finde, das ist etwas vom Nettesten, was man einem Newbie wie mir in der Verlagswelt sagen könnte. Ausserdem haben meine zwei Kolleginnen, die vielleicht schon sowas wie Freundinnen geworden sind, und ich gestern Abend so wenig Energie übriggehabt, dass wir in einem Foodcourt im Einkaufszentrum gegessen haben, uns im DM mit Gesichts- und Augenmasken eingedeckt haben und danach einen Kardashians-Abend im Hostel gemacht haben. Denn das können interessante, belesene und kluge Menschen eben auch.


Ich muss ehrlich sein, dass all die Kontroversen während der Messe für mich überhaupt nicht spürbar waren. In dieser Heterotopie, in der wir uns befanden, die vor allem aus Schweizer Verlagsmenschen bestand, war da irgendwie gar kein Platz für. Alles so weit entfernt von der Realität der kleinen Schweizer Verlagswelt, dass das irgendwie gar nicht besprochen wurde. No comment also. Aber nicht aus politischen Pressegründen, sondern aus Unwissen. Sorry. Abschliessend möchte ich doch noch erwähnen, dass ich ganze fünf Minuten bei einem Gespräch mit Sophie Passmann zugehört hab. Sie war bei der Zeit auf der Bühne zu sehen und ich bin hauptsächlich vorbeigegangen, um unser Messebingo auszufüllen (fürs Kreuz bei «Sophie Passmann trägt ein modisches Outfit»). Ausserdem abhacken konnte ich folgende Punkte: 

  • Eine Cüpli-Veranstaltung (mehrere, schau dir den Insta-Post von @schweizerbuchhandel an) 

  • Ein Riesenreclambuch

  • Spiegel-Bestseller-Sticker

  • Mansplaining

  • Person im Anzug (unter anderem auch ich) 

  • Pommes zum Zmittag

  • Jemand fragt: «Wo ist eigentlich euer Verleger?» (weil den jungen Lektorinnen anscheinend nicht so viel zugetraut wird…) 

  • Deutsche Politiker:innen halten eine Ansprache


Da ist also doch einiges passiert. Was ich aber eigentlich noch zu Sophie Passmann sagen wollte: Ich mochte ihr letztes Buch nicht sonderlich. Ist aber auf Spotify zum Nachhören, falls du es doch wagen willst. Sehr viel Meinung, die etwas viel behauptet und sich auf keinerlei Forschung stützt – auch in Bereichen, in denen es einiges an Forschung gäbe. Gleichzeitig wird aber so getan, als wäre das alles allgemeingültig und hätte Wahrheitsanspruch. Fand ich schade. Jedenfalls wurde nach jeder Antwort Passmanns auf Fragen der Moderation begeistert geklatscht. Als hätte sie nicht dasselbe gesagt, was im Buch stand, als wäre es eine besonders herausragende Leistung, eine Meinung zu haben. Fand ich etwas platt. 


So, jetzt zu deinen Themen, die ich gerne aufgreifen möchte. Zum Gaza-Krieg möchte ich ehrlich gesagt nicht sonderlich viel schreiben, ich hoffe, das ist okay. Ich bin aber auch ständig in meinen Nachrichten-Apps und bin froh, bezahle ich momentan für guten Journalismus (der halt seinen Preis hat). Ich umschiffe die Insta-Diskussionen bewusst, denn ich versuche, mich nicht von Meinungen beeinflussen zu lassen. Was natürlich unglaublich schwierig ist. Ich versuche aber auch, mir selbst keine Meinung zu bilden, bin aber noch nicht sicher, ob das sinnvoll ist. Ist es fair, einer Seite mehr Verständnis entgegenzubringen als der anderen? Schlussendlich sind das alles zivile Opfer, bei denen meine Gedanken sind. Sie leiden. Sie verlieren ihre Heimat. Sie sterben. Da scheint es mir unfair und etwas verblendet, zu behaupten, ein Land hätte mehr Recht auf Angriff, auf Verteidigung, auf Frieden. Verstehst du, was ich meine? Trotzdem fühle ich mich in der Schuld, zu verstehen, was da geschieht. Warum es geschieht, woher das alles kommt. Doch dann wiederum habe ich in den letzten Tagen keinen einzigen Artikel mehr zur Ukraine gelesen. Ich komme nicht nach. Es geschieht zu viel. Und gleichzeitig geschieht auch in meinem eigenen Leben viel. Alles ist einfach viel und ich weiss häufig nicht mehr, wie ich da noch mitkommen soll, obwohl ich das eigentlich gerne würde. Gerade versuche ich mich daran, diesen Zwiespalt auszuhalten. Denn ich weiss nicht, ob uns gerade mehr bleibt, als das Aushalten. Vielleicht ist das aber auch bloss eine einfache Ausrede. Ich weiss es nicht…


Sprung zu deinen anderen Eindrücken aus Griechenland. Deine Gedanken zum Heiraten an fremden Orten lassen mich schmunzeln. Meinst du, das ist ein verspäteter Mamma-Mia-Effekt? Griechenland ist in meiner Wahrnehmung nämlich mittlerweile nicht nur geprägt von Mythologie, Statuen, Tempeln, Meer, sondern eben doch auch von ABBA und Hochzeiten. Anders als du habe ich an schönen Orten aber nicht das Gefühl, meine Liebsten dorthin mitnehmen zu müssen. Denn wenn ich einen solchen Ort in mich aufzunehmen versuche, ihn wirklich zu spüren, wünschte ich mir oft, dass ich ihn mit niemandem teilen müsste. Was natürlich kompletter Schwachsinn und ultraegoistisch und vielleicht sogar ein bisschen kolonialistisch von mir ist. Aber ich denk mich da jetzt nicht weiter rein.


Was mich aber immer sehr berührt, ist das Meer. Das weisst du ja. Nicht, im Meer zu sein, ich hab schreckliche Angst vom Meer und allem, was da drin lebt. Aber am Meer zu sein. Mein ADHS erlaubt es mir oft nicht, unbewegte Sache, die sich kaum verändern, für längere Zeit zu geniessen, geschweigen denn einfach anzuschauen, ohne einen neuen Input zu kriegen. Die einzige Ausnahme scheint mir da immer das Meer. Ich hab in einem Text, während meiner Interrail-Reise 2019 versucht, zu beschreiben, was das Meer mit mir macht. Damals war ich ganz doll verliebt in S. und ich habe ihn unglaublich vermisst. Ich habe ihm (teils ziemlich peinliche) Briefe geschrieben, die ich aber nie abgeschickt habe. Andere Sachen finde ich immer noch schön und ich bin froh, habe ich gewisse Gedanken aufgeschrieben. Folgendes habe ich während meines Aufenthalts in Den Haag geschrieben:  


Montag, 20. August 2019 In mir drin herrscht ständig diese innere Unruhe. Ich denke immer zu viel nach. Und fühlen tu ich auch immer ganz schön viel. Und irgendwie ist das ja auch okay. Aber manchmal ist es eben doch auch schön, für einen kurzen Moment innehalten zu können. Denn wenn in mir drin immer Geschrei und Lärm herrschen, dann ist es manchmal auch sehr angenehm, wenn da nur Geflüster ist. Zwei Dinge scheinen es zu schaffen, mich zum Stillstand zu bringen. Das hab ich in den letzten acht Tagen herausgefunden. Kiffen und das Meer. Kiffen mehr als das Meer. Rauch ich einen Joint oder seh ich das weite Blau vor mir, denke ich auch anders über dich nach. Ich bin nicht so hibbelig und nervös. Ich mache mir keine Sorgen darüber, wo uns das alles hinführen wird. Und dann frage ich mich wieder, was besser ist. Denn auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, gleich zu explodieren, wenn ich deine Stimme höre, ist es doch immer irgendwie schön. Jetzt gerade aber fühlt sich das ‘An-dich-Denken’ schon fast normal an. Als wäre es zur Gewohnheit geworden. Aber wenn ich ehrlich bin, will ich nicht, dass das zwischen uns zur Gewohnheit wird. Ich will auch in einem Jahr noch genau gleich aufgekratzt sein, wenn ich weiss, dass ich dich gleich sehen werde. Ich will dieses Kribbeln nicht vergessen, nur weil es alltäglich wird, mit dir zu reden. Vielleicht ist es also gut, leben wir in einem Binnenland. Dann bleib ich vielleicht für immer so verliebt wie jetzt gerade. 


Uiuiui, da war ich wirklich ganz schön verliebt, wie du merkst. Aber ich glaube, ich bin ganz schön nah an das rangekommen, was das Meer mit mir macht. Auch wenn es etwas kitschig war, was ich da aufgeschrieben hab. So, auch mein Brief ist lang und dicht und ich habe viele Gedanken hier reingepresst. Aber etwas Letztes muss ich noch erwähnen. P. und ich haben uns letzte Woche den Taylor Swift Konzertfilm im Kino angeschaut. Und auch das hab ich sehr viel gefühlt. Mehr als ich erwartet hätte. Das Konzert nächstes Jahr wird darum bestimmt uuu crazy. Krass und überfordernd und mega stressig, aber mega schön und unglaublich. Aber du weisst, wie sehr ich Vorfreude mag. Darum montiere ich jetzt schon meine Schwimmbrille, lasse mich rückwärts in diese Vorfreude fallen, wie in einen tiefen Pool und versuche, die Luft so lange wie möglich anzuhalten. 


Alles Liebe, deine Michelle


PS: Gendern mit «me» find ich übrigens schrecklich! Unglaublich sperrig und fast noch schlimmer als «mensch». Ausserdem kommt «me» immer noch von «man», also macht es eigentlich keinen Unterschied. «man» kommt halt von «Mann», was früher mal «Mann» und «Mensch» geheissen hat. Schwierig also, denn auch das lateinische «homo» war halt immer «Mensch» und «Mann». Für «Frau» gab es fast immer ein einzelnes Wort. Schon früh nur mitgemeint also… Trotzdem bleibe ich genug Sprachpuristin, dass «mensch» zu weit geht für mich. Verstehe aber, wenn man das lieber benutzt.


PPS: Im Französischen hat sich das übrigens ähnlich entwickelt. «on» kommt auch vom lateinischen «homo». Schwierig, dieser männlichen Sprache zu entkommen. 


 
 
 

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