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Liebe Vera

  • Michelle Harnisch
  • 2. Nov. 2023
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 1. Jan. 2024

Es ist wirklich uuu mega schlimm, dass ich dich letzte Woche so gestresst habe und erst jetzt zurückschreibe. Sorry, sorry, sorry! Bevor ich beginne, möchte ich dir für deine lieben Worte zum Einstieg danken. Jööö, sie waren sehr nett <3 Auch wenn ich mich traue, verletzlich zu sein, verstelle ich mich doch oft in meinen Texten. Du scheinst mir dagegen sehr aufrichtig und ehrlich. Ich danke dir wirklich dafür. Zum Einstieg noch ein Auszug aus Julia Webers «Die Vermengung», der mich momentan umtreibt:


Und heute möchte ich, dass jemand mir sein Denken schenkt oder wir es teilen (so wie wir es tun, deswegen fehlst du mir mehr denn je), aber ich habe keine Lust oder Kraft, jemanden ins Denken zu verführen. 


Was für ein schöner Satz! Nur eine Woche ist vergangen seit deinem letzten Brief und trotzdem fühlt es sich an wie eine völlig andere Jahreszeit. Zwischendrin war nämlich Zeitumstellung und Halloween. Die Weihnachtsschokolade steht jetzt vorne in der Migros, mir wird bereits Mariah Carey auf Spotify vorgeschlagen. Ausserdem beginnt wieder die Zeit, in der alle Paare in meinem Umfeld diesen Amorana-Kalender bestellen, weil «Weisch, er isch zwar schono tüür, aber isch halt au e Investition in eus und wenn mes dur zwei teilt isch es au gar nümm so vill. Isch ebbe euses Wiehnachtsgschenk anenand. Mir hend eus drum das Joor au mol de grossi gchauft, das ischs eus wärt», und ich mich frage, ob ich im Bett zu wenig experimentell bin. Kein Front gegen dich an dieser Stelle. Ausserdem hat es wieder zu regnen begonnen, die Tage werden kürzer, kälter. Der Herbst ist hier. Für jemanden wie mich, die einen Bürojob hat, viel strickt, liest und Zug fährt eigentlich voll in Ordnung.


Ja, Freundschaften, das ist doch immer so eine Sache. Ich bin wirklich glücklich, habe ich mich im Verlagsteam so schön eingefunden. Das ist sehr viel wert und bereichert meine Tage, meine Mittagspausen. Die ein bis zwei Tage in der Woche (je nach Homeoffice-Situation der anderen), in denen ich dann aber alleine Mittag machen kann, geniesse ich dafür schon fast. Manchmal lädt mich auch mein Chef zum Zmittag ein, weil wir oft zu zweit im Büro sind. Er fühlt sich glaubs schlecht, weil ich einen tiefen Volo-Lohn habe und versucht das so, wenigstens ein bisschen, wettzumachen. Er ist eh ein Schatz. Ganz anders als ich mir so einen 50-jährigen, männlichen Chef immer vorgestellt habe. Wir haben gute Gespräche und er erklärt mir alles mit viel Geduld. Und lädt mich eben ab und zu zum Zmittag ein. Sonst finde ich es aber wieder einmal etwas herausfordernd mit diesen Freundschaften, die ausserhalb der Arbeit stattfinden. Du weisst, wie es ist. Ich arbeite 100 Prozent, habe zwei Mal die Woche Handballtraining, manchmal dann noch einen Abend Pfadi und einen Abend mit S. Dann kommen hin und wieder noch die Lesungen dazu, die zwar als Arbeitszeit zählen, die ich aber auch in meiner Freizeit besuchen würde. Da bleibt eben gar nicht mehr so viel Platz. Mir fällt es schwer, zu priorisieren. Denn wenn es für mich stimmt, stimmt es eben oft für andere nicht mehr. Ich vergesse, S. in meine volle Woche einzuplanen oder merke zu spät, dass es nun schon zwei Monate her ist, seit ich eine Freundin getroffen habe. Dann sollte man ja auch noch die Eltern hin und wieder besuchen, ist mit getrennten Eltern auch noch einmal zeitintensiver, und irgendwann bräuchte ich eben auch noch ein bisschen Zeit für mich. Zeit für mich, die nicht im Zug stattfindet. Ich habe zum Beispiel bestimmt zwei Monate nicht mehr geschrieben. Weil ich die Zeit einfach nicht finde. Weil ich die Motivation nicht finde, die Ideen, die Inspiration. Meine Figuren sind da, reden mit mir in meinen Gedanken, aber zu Papier bringe ich irgendwie nichts. Darum finde ich es auch so schön, mich schriftlich mit dir auszutauschen. So komme ich vielleicht nicht ganz aus der Übung.


Sorry, das war jetzt ein Ausholen, ein Abschweifen. Eigentlich ging es mir ja um Freundschaften. Aber eben, irgendwie werden die immer schwieriger. Vor allem, wenn die Erwartungen so unterschiedlich sind. Ich habe jeden Tag eine Stunde im Zug Zeit, um zu telefonieren. Mein Bruder, meine Eltern schätzen das ungemein, wenn ich zwei Mal die Woche mit ihnen rede, mit einer Freundin telefoniere ich alle zwei Wochen ziemlich lange. Andere finden telefonieren blöd, wollen sich in echt sehen, sind dann beleidigt, wenn man erst in drei Wochen einen freien Abend hat, statt wertzuschätzen, dass ich sie gerne wiedersehen möchte, halt aber erst dann Zeit habe. Manchmal fühlt es sich so an, als müsse man für alles eine genaue Reihenfolge haben, aber immer erwarten mehrere Leute gleichzeitig, auf den Spitzenplätzen zu liegen. Dabei kann man das doch gar nicht so bewerten. In gewissen Momenten ist eben die Arbeit wichtiger (wenn man sich zum Beispiel versucht, in einer Branche einzuleben, Leute zu treffen). Manchmal ist S. wichtiger (wenn wir einander vermissen, berühren möchten, einander brauchen). Manchmal ist dann eben die Freundin wichtiger. Da gibt es oft keine fixen Abstufungen für mich, aber phasenweise habe ich eben gewisse Bedürfnisse und meine Gegenüber haben andere Bedürfnisse… Ich weiss nicht, ob ich da auf einen Punkt komme, aber verstehst du, was ich meine? Ich glaube, Kulturbranche ist immer nochmal schwieriger, bei dir bestimmt noch mehr als bei mir. Wenn man halt regelmässig auch abends arbeitet, verschiebt sich der eigene Rhythmus einfach. Da kann man gar nicht so viel machen. Bei unserer Freund*innengruppe kommt ja dann auch noch dazu, dass wir alle so verstreut sind. Obwohl viele von uns jetzt wieder in Basel sind, gibt es trotzdem noch Punkte in Zürich, in Bern, in Fribourg. Da ist es meistens nicht mehr einfach, so flexibel zu sein wie vor ein paar Jahren. Doodle regiert unsere Chats und das ist auch okay so. Was für mich, glaube ich, der springende Punkt ist, dass Freundschaften nicht nur über Regelmässigkeiten funktionieren, sondern über die Intensität, die Tiefe, die man zulässt. Die Einblicke, die man einander gewährt, auch wenn man sich nur monatlich oder halbjährlich trifft.

 

Ich überspringe deine anderen Punkte jetzt, weil ich dazu nicht mehr so viel zu sagen weiss, und komme gleich wieder zu Sophie Passmann. Versteh mich nicht falsch: Ich finde Passmann eine unglaublich kluge, eloquente, humorvolle und auch sympathische Frau. Mir ist sie in ihrem neuen Buch einfach zu polemisch. Ich finde, sie sollte sich an die Fiktion halten, die gefiel mir besser. Wir haben aber in person schon ausführlich darüber geredet, darum klammere ich das jetzt alles aus. Über die erwähnte Stelle möchte ich aber trotzdem an dich schreiben. 

 

Zu frühes Glück in der Liebe macht wahrscheinlich unglaublich langweilig. Wenn ich Frauen um eine Sache bitten dürfte, dann, den Anfang ihrer Zwanziger nicht in der Belanglosigkeit einer heterosexuellen Beziehung zu verschwenden. (Sophie Passmann, Pick me Girls)


Uiuiui, Vera, da triffst du bei mir auf so viel Anklang! Ich habe sehr lange (sicher eine Woche oder zwei) über diesen Satz nachgedacht. Er hat mich mehr beschäftigt, als er es hätte tun sollen. Aber ich konnte mich nicht davon abhalten. Auch ich fühlte mich angegriffen. Zweifelte kurz an mir. Fragte mich, wie ich das hin und wieder tue, in welch andere Richtung ich mich wohl entwickelt hätte, hätte ich nicht die letzten vier Jahre in einer heterosexuellen, monogamen Beziehung verbracht. Aber dann wurde ich auch etwas wütend. Wütend, dass jemand sich anmasst, zu behaupten, man würde sich besser entwickeln, wenn man nicht in einer Beziehung ist. «Langweilig» ist ausserdem ein enorm gemeines Wort, finde ich. Ich finde, es gibt wenig schlimmere Dinge, die man über mich sagen könnte, als dass ich langweilig sei. Ich kam nicht zum Schluss, dass ich etwas hab, das Passmann nicht hat, sondern eher zum Schluss, dass ich in diesem Bereich mehr weiss, mehr Erfahrung hab. Andere Werte vertrete und das auch gut so ist. Dass ich verstehe, dass es wunderbar ist, an der Seite von jemand anderem zu sein, und sich trotzdem weiterentwickeln zu dürfen. Sich gleichzeitig aber auch darin zu üben, für andere da zu sein. Rücksicht zu nehmen. Kompromisse einzugehen. Versteh mich nicht falsch, ich finde es gut, wird Selbstverwirklichung so grossgeschrieben, finde es gut, ist Selbstbewusstsein wichtig. Finde es gut, darf man hin und wieder egoistisch sein. Aber irgendwann wird das alles eben auch zur Schwäche. In vielen Büchern, die ich lese, schreiben vor allem Frauen davon, dass es so wichtig für sie war, anfangs/Mitte/Ende ihrer Zwanziger single zu sein, sich zu entfalten, sich auszuleben. Ich glaube aber, dass nicht die Partner*innen generell das Problem sind. Denn all das kann ich auch in einer Beziehung tun. Wenn da Kommunikation ist, Verständnis, Einsicht, das Sich-gegenseitige-Raum-lassen. Dann geht das alles auch mit jemand anderem neben dir, denke ich.


Gibt es eigentlich Dinge, die du vermisst? Dinge, die du in deiner Beziehung nicht hast, die du hättest, wärst du single? Ich denke oft darüber nach, ob mir etwas fehlt. Denken muss ich dann immer an meine Tagebucheinträge, meine Texte, ob fiktiv oder nicht, zu Beginn meiner Beziehung mit S. Als ich so verliebt war, dass ich jeden Tag das Gefühl hatte, zu explodieren. Als jeder Tag mit einem Gedanken an S. begann und auch aufhörte. Als wir vierstündige Telefonate führten. Diese Aufgekratztheit, dieses Kaum-abwarten-können, einander zu sehen. Ich frage mich manchmal, ob ich wohl nie wieder so einen Punkt erreichen werde. Ob ich wohl nie wieder so verliebt sein werde. Natürlich ist das, was ich jetzt habe, viel schöner. Viel tiefer, viel wichtiger und stärker. Weniger stressig, konstanter und aufrichtiger. Aber diese Intensität (die ich übrigens immer spürte, wenn ich in jemanden verliebt war) vermisse ich manchmal. Manchmal habe ich auch Angst, nie wieder so ehrlich und so gut zu schreiben wie damals. Diese Aufrichtigkeit, mir selbst gegenüber, dieser Mut mich so sehr in meine Gefühle zu stürzen, fehlt mir heute manchmal. Hast du das auch? 


Vera, dann gibt es da noch was, was ich dir sagen möchte, denn ich bin ganz baff. So, so, so ein schönes Gedicht, das du mir geschickt hast! Auch etwas, worauf ich eifersüchtig bin. Ich kann keine Gedichte schreiben. Liegt mir überhaupt nicht. Hab mal einige Versuche gewagt und es war immer sehr cringe. Die zweitletzte Strophe, Vera! So, so schön <3 Und wenn ich schon bei der Eifersucht bin, möchte ich dich um Rat fragen. Ich bin generell eine ziemlich eifersüchtige, neidische (ich bin nie sicher, was der Unterschied ist) Person. Als du mir beispielsweise geschrieben hast, dass du bei dem Schreibwettbewerb, an dem wir beide teilgenommen haben, für den wir gegenseitig Texte gelesen haben, gewonnen hast, konnte ich mich für eine Minute überhaupt nicht für dich freuen. Obwohl ich in diesem Moment noch gar nicht wusste, dass ich nicht genommen wurde, dass die Jury meinen Text offensichtlich nicht gut genug gefunden hatte, war ich neidisch. Ich wusste, dass meine eigene Chance auf den Gewinn gerade kleiner geworden war, konnte es dir nicht gönnen. Solche Momente habe ich häufig. Die Gefühle kommen hoch und für einen Moment gibt es wenig anderes. Alles rückt an den Rand meiner Wahrnehmung und ich spüre dieses Gefühl vom Nicht-gleichgut-Sein ganz tief in mir. Unglaublich greifbar und deutlich. Und dann mache ich mir bewusst, was das gerade ist. Dass es eine unnötige Reaktion ist. Dass ich deinen Text wunderbar fand, verletzlich (was du also doch auch gut kannst!), mutig, klug. Dass du es absolut verdienst, zu gewinnen. Die Chance zu bekommen, deinen Text zu teilen. Dass ich gerade sehr gemein war und sei es nur in meinen Gedanken. Hast du das auch? Solche Momente? Wie gehst du damit um? Denn auch wenn ich mich immer relativ schnell wieder von diesem Gefühl lösen kann, erinnere ich mich daran. Ich weiss, wie ich mich gefühlt hab, wie unfair ich kurz war und wie stark diese Gefühle waren. Ich schäme mich im Nachhinein dafür, weiss du? Aber ich finde es wirklich schwierig, einen Umgang damit zu finden. 


So, jetzt ist genug. Ich hoffe, das war nicht zu ausschweifend, nicht zu durcheinander. Zum Schluss nur noch einige Dinge, die ich gerne loswerden möchte, aber vergessen werde, bis wir uns das nächste Mal sehen: Ich lese wieder unglaublich viel im Moment, fühle mich dadurch kluger und inspirierter und geniesse es, wieder so viel Motivation für Bücher, die mich ausserhalb meiner Arbeit erreichen/ansprechen, zu haben. «1989 (Taylors Version)» erschien letzte Woche und ich empfehle dir sehr gerne die beiden neuen Lieder: «Now that we don’t talk» und «Is it over now?» und die alten Lieder «Welcome to New York» und «I Know Places». Sehr tolles Pop-Album. Eher sommerlich, aber schön in diesen grauen Tagen. Ich freue mich unglaublich fest auf die Herbstmäss. Ich war noch nicht dieses Jahr, bin nicht einmal vorbeigefahren. Und generell geht einfach gerade wieder sehr viel in meinem Leben. Ich bin busy, unterwegs, chaotisch, aber gerade geniesse ich es. Mal schauen, wie lange das noch so bleibt. 


Ich freue mich, dich bald wieder zu sehen. Ich denke an dich. Bis bald. 


Michelle 


 
 
 

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