Liebe Vera
- Michelle Harnisch
- 23. Juni 2024
- 6 Min. Lesezeit
Nachtrag vom 26. Juni 2024: Eigentlich habe ich diesen Brief bereits am Samstagabend (22.6.24) geschrieben und ihn dir auch schon da geschickt. Aber ich bin noch zu sehr im Ferienmodus. Daher erst jetzt live geschaltet. Voila!
Heute bin ich zurück in Basel und habe viele Gedanken. Gedanken, die ich nicht ganz einfach in Worte zu fassen schaffe. Viele, die ich auf meiner Reise aufgeschrieben habe, sind ein bisschen angriffig, haben sich aber schon seit einer Weile in mir aufgestaut. Ich habe nur teilweise versucht, sie etwas zu glätten. Vielleicht weisst du ja etwas Konstruktives damit anzufangen.
Angefangen hat es in mir eigentlich, als S. und ich in unseren letzten Tagen in Bodø das «Luftfartsmuseum» besucht haben. Die Norweger*innen sind nämlich sogenannte «Vielflieger», und wenn man nur nach dem Museum geht, auch sehr stolz darauf. Anscheinend ist Oslo einer der wenigen internationalen Flughäfen, von dem aus gleich viele Innlandflüge wie internationale Flüge gehen pro Tag. In den 70er und 80er Jahren wurden Fluggesellschaften verstaatlicht in Norwegen, da viele kleinere Dörfer im Norden bessere Anschlüsse wünschten und obwohl die Fluggesellschaften heute nicht mehr staatlich sind, sind die Norweger*innen Vielflieger*innen geblieben. Norwegen ist eines der Länder mit der höchsten Zahl an Innlandflügen weltweit. Die Ausstellung war ziemlich interessant, wenn auch nicht sonderlich vielseitig. Es war viel Abgewichse darauf, wie gut die Flugzeuge waren, wie cool das Fliegen früher war, vom Klima war aber kein einziges Mal die Rede. Das war es, was mich vor allem irritiert hatte. Ich habe aber auch gemerkt, was für ein Privileg es eigentlich ist, eben nicht mit dem Flugzeug in die Ferien zu fliegen und den langen Weg mit Zug und Bus und Schiff auf sich zu nehmen. Meistens ist es eine Kostenfrage, aber ganz klar auch eine Zeitfrage. Dass nicht alle eine Woche an ihre Ferien dranhängen können, für eine lange Hin- und Rückreise, verstehe ich natürlich. Ausgelöst wurden diese Gedanken in mir von einem Bild aus den 80er-Jahren. Auf dem Bild sah man bleiche Norweger*innen am Strand von Mallorca liegen. Die Bildbeschreibung lautete: «Suddenly you could spend the bulk of your holiday at the destination, rather than on the journey itself.»
S. und ich haben viel über das Klima geredet. Darüber, dass man ja eigentlich überhaupt nicht reisen sollte, egal wie, wenn man wirklich alles hochrechnen würde. Darüber, dass ich langsam meine Hoffnung verliere, wenn sogar unsere Bubble, die so lange so konsequent war, langsam aber sicher damit aufhört, konsequent zu sein. Diese Entwicklung beobachten wir, glaube ich, alle seit vielleicht so zwei Jahren, wir sprechen aber nicht wirklich darüber. Vielleicht ist es zu emotional aufgeladen, vielleicht schämen wir uns alle ein bisschen. Aber wie soll ich an ein besseres Morgen glauben, wenn sogar diese konsequenten Leute in meinem Umfeld eben nicht mehr konsequent sind?
Ich finde es schwierig, das nicht als Vorwurf zu formulieren, aber im Grunde genommen ist es wohl einer. Einer, den du mir hoffentlich vergibst. Denn logisch bist auch du mitgemeint. Dabei möchte ich aber auch kurz einwerfen, dass mir natürlich bewusst ist, dass auch ich noch mehr machen könnte. Ich bin jetzt über vier Jahre lang nach Zürich gependelt, ich esse Fleisch, ich gehe oft in die Ferien, ich kaufe immer noch ab und zu bei H&M ein. Das Fliegen ist vielleicht der einzige Punkt, bei dem ich selbst wirklich konsequent bin, deshalb fällt es mir auch so sehr auf. Ich frage mich aber immer mehr, warum so viele Leute, die wir kennen, ihre früheren Überzeugungen aufgeben. Gehört es einfach zum Älterwerden dazu, gewisse Fakten zu ignorieren? Frühere Prinzipien über den Haufen zu werfen? Sich selbst einzureden, dass es doch auch Gründe dafür gibt, Dinge, von denen man versprochen haben, sie niemals zu tun, nun doch zu tun? Wenn das so ist, weiss ich nicht, ob ich wirklich älter werden möchte. Warum machen wir heute, wo wir selbst entscheiden können, dieselben Fehler wie unsere Eltern? Vielleicht sogar schlimmere? Denn unseren Eltern kann man für eine gewisse Zeit gerne noch das Nichtwissen zugutehalten. Mehr schlecht als recht zwar, aber lassen wir es gelten. Bei uns zieht dieses Argument aber ganz sicher nicht mehr.
Ich weiss natürlich auch, dass wir logischerweise nicht mehr gleich denken, wie mit 18. Man ist nicht mehr so idealistisch wie auch schon. Ich verstehe auch, dass man Kompromisse eingeht. Aber mit dem Klima, spezifisch dem Fliegen, ist es einfach kein Kompromiss mehr. Es ist ein Ignorieren von Fakten, von Besserwissen, ein Ausblenden von Schamgefühlen, ein «Es sich schönreden.» Natürlich kommen da noch ganz viele andere Faktoren dazu. Geld, Zeit, Privilegien. Dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Reisen kein so krasses Privileg mehr darstellt, wie es das lange getan hat, ist ja eigentlich ein Fortschritt. Die Möglichkeiten, die Welt zu sehen, sind unendlich und lassen uns Neues lernen, uns weiterbilden. Aber ist es das alles wert? Denn auch wenn ich weiss, dass es faktisch gesehen nichts ausmacht, dass keine Einzelperson etwas daran ändern kann, dass 50% der Emissionen von einem einzigen Prozent der Menschheit stammen, dass ein riesiger Teil davon von Firmen stammt, auf die wir keinen Einfluss haben, halte ich es nicht aus, das einfach so auszublenden. Weisst du, was ich meine? Mich beschäftigt das momentan ziemlich doll.
Privilegien, nicht nur die der Zeit, eine viertägige Anreise und eine dreitägige Rückreise auf mich nehmen zu können, haben mich generell beschäftigt in dieser letzten Woche. Denn manchmal vergesse ich, was für ein Türenöffner diese kleine, blaue Karte in meinem Portemonnaie doch ist. Der Zollbeamte an der Grenze zwischen Dänemark und Deutschland hat meine ID kaum angeschaut auf der Rückreise. Das Schweizerkreuz darauf reichte ihm bereits, er hat weder das Foto richtig angesehen, noch hat er mir ein einziges Mal ins Gesicht geschaut. In etwa so ist es auch bei allen anderen Passkontrollen gelaufen. «Ah, Schweiz», meinte die Frau an der Grenze zu Deutschland nur und drehte sich sofort wieder um, während sie den Albanischen Pass meines Sitznachbars bestimmt eine ganze Minute lang durchblätterte. Auch diese Ungerechtigkeiten halte ich an manchen Tagen kaum aus.
Du weisst mittlerweile, wie schlecht ich in Übergängen bin, darum noch einzelne Sätze, die ich mir aufgeschrieben habe, während ich weg war.
Es hat Solarien überall, Vera! Die Norweger*innen vermissen die Sonne anscheinend so heftig im Winter, dass die Schuppen hier noch eine Daseinsberechtigung haben, die in der Schweiz bereits abgelaufen scheint. Wann hast du das letzte Mal ein Solarium gesehen? Und kennst du überhaupt jemanden, der je in einem Solarium war?
Unser «Zimtschnegg» oder «Kanelboller»-Konsum ist bestimmt um 800% angestiegen und ich weiss noch nicht, wie ich mich wieder an einen Alltag ohne soviel Süssgebäcke gewöhnen soll.
Ich hatte das ranzigste Vorstellungsgespräch ever. Über Zoom auf einem Camping mit Campingplatz-Wlan. Als ich zu Beginn Smalltalk führte und meinte «Mir händ mega Wätterglück gha, s isch echt mega schön bis jetzt.» rief ein alter Herr im Bademantel und mit Shampoo in der Hand lachend «So muess es sii!» und crashte meine Vorstellungsrunde mit meiner zukünftigen Chefin. Den Job habe ich trotzdem bekommen, yay!
Ich verstehe dieses Bedürfnis von uns Schweizer*innen nach Weite. Nach dieser Weite, die man in der Schweiz, glaube ich, nirgends findet. Hier findet man sie und ich würde das, was sie in mir manchmal auslöst, gerne mit nach Hause nehmen, weiss aber nicht, ob das irgendwie möglich ist.
Das sind vielleicht die schönsten Ferien, die S. und ich bis jetzt zusammen verbrachten. Als wir uns mit dem Wissen verabschiedet haben, dass wir uns nach diesen intensiven Wochen nun 6 Wochen nicht sehen werden, war der Abschied dann doch nicht ganz so einfach. S., der alleine weiterreiste, musste ein bisschen weinen. Und weil er ein bisschen weinen musste, musste auch ich ein bisschen weinen. Das war schön.
So, was für ein Durcheinander schon wieder. Ich treffe keine klare Linie, keinen klaren Ton gerade. Darum möchte ich vor den Kategorien nur noch kurz anmerken, dass ich dir überhaupt nicht zustimme, was Fabers Liedtexte angehen. Ich gehe ihm mit jedem Lied von neuem auf den Leim, falle auf diese Wortspiele und rhetorischen Figuren hinein. Mich bringen sie zum Schmunzeln und die Musik bringt mich zum Tanzen und manchmal brauche ich nicht mehr von Musik. Aber nun zu meinen Kategorien:
Etwas zum Glotzen: Irgendeine Folge vom «Basement Yard» Podcast auf YouTube. Die zwei Bres reden über gar nichts, aber ich muss immer sehr lachen und verbringe gerade sehr viele Stunden mit ihnen.
Etwas zum Lesen: «Swimming Home» von Deborah Levy. Der erste Roman, den ich von ihr gelesen habe. Aber ich glaube, ich habe die Autorin gerade für mich entdeckt. Als nächstes möchte ich den zweiten Teil ihrer Autobiographie oder den Roman «Hot Milk» lesen.
Etwas zum Essen (Trinken): Ganz klassisch Mate. Egal welches. Das gab es in Norwegen nicht und ich habe es vermisst.
Etwas zum Hören: Eigentlich wollte ich etwas von Taylor Swift empfehlen. Denn das Konzert rückt immer wie näher und manchmal grinse ich einfach in einen Raum hinein, weil ich daran denke, dass ich sie wirklich live sehen werde in drei Wochen. Ich weiss nicht, ob ich mich je so sehr auf etwas gefreut habe. Weil Taylor Swift aber eine langweilige Empfehlung ist, lege ich dir Gracie Abrams ans Herz. Ihr Album ist am Freitag erschienen und ist ganz wunderbarer Pop.
Grüsse aus meinem chaotischen Kopf.
Alles Liebe, Michelle
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