Liebe Vera
- Michelle Harnisch
- 11. Aug. 2024
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 14. Aug. 2024
Danke für den Brief. Obwohl ich dir gepitcht habe, dass wir eine Sommerpause einlegen, bis du wieder zurück bist, habe ich mich sehr über deine Worte gefreut. Ich habe meinen letzten Brief zwischen Arbeiten, SoLa und Leben irgendwie nicht geschafft, frame das für mich aber als persönliche Sommerpause. Machen allerhand Late Night Show Hosts und so ja auch.
Ich bin ehrlich, ich habe mich selten so doll auf einen Brief von dir gefreut, wie auf diesen letzten. Deine New York Erlebnisse sind das, was mich wohl am meisten Wunder genommen haben, mehr noch als Indien. Denn auch ich trage ein ziemlich grosses Verlangen, nach New York zu reisen, in mir. Wenn du so von der Stadt schreibst, dann werde ich sehr sehnsüchtig. Was echt untypisch ist für mich. Es gibt fast keine Orte auf der Welt, an die es mich wirklich zieht, ich habe (wie schon einmal erwähnt) überhaupt kein Fernweh. Aber New York hat es mir doch sehr angetan. Bisher leider nur aus der Distanz. Ich habe letztens überlegt, warum ich so gerne einmal dorthin gehen würde, habe dann aber realisiert, dass es mir fast schon ein wenig eingeimpft wurde. Meine Mutter war schon immer grosse New York Fan (auch sie war noch nie dort). Sie hat immer Filme geschaut, die in New York spielten, hatte Bilder der Stadt als Hintergrund, sprach von der Stadt mit einer Sehnsucht, die ich als Kind wohl nie ganz greifen konnte. Auch in mein Freund*innenbuch aus der Primarschule hat sie bei der Frage nach ihrem grössten Traum geschrieben: «nach New York reisen». Vor einigen Jahren dann konnte mein Bruder im Rahmen des Jamborees in Amerika in die Stadt. Sie hatten eine Woche dort, bevor sie dann ins grössere Lager in West Virginia weitergereist sind. Wir haben es ihm natürlich gegönnt, aber seine Erzählungen haben uns am Znachttisch glaub beide ganz schön eifersüchtig gemacht. Gestützt wurde diese Obsession mit New York dann natürlich auch durch allerlei Bücher, die dort spielen. Es gibt ja die Theorie, dass sich Weltliteratur immer auf dem Land abspielt, aber das wage ich zu bezweifeln. Denn ein beträchtlicher Teil der Weltliteratur spielt sich in New York ab. So fühlt es sich jedenfalls an. Ich habe gerade in diesen letzten Wochen drei Bücher gelesen, die in New York spielen und immer scheint die Stadt selbst auch als Figur aufzutreten. So verliebt man sich gleich noch einmal mehr in diese Vorstellung der Metropole. Letztens habe ich übrigens mit meinem Bruder abgemacht, dass wir irgendwann mal noch mit Mama nach New York müssen. Nur wir zu dritt. Das wäre sehr schön.
Bevor ich nun zu meinen eigenen Sommererlebnissen komme einige instinktiven Reaktionen auf deine Liste:
Ich fühle mich oft wie ein White Girl. Häufig wegen meines Musikgeschmacks, aber auch wenn ich tanze oder wenn ich scharfes Essen nicht vertrage. Kulminiert ist dieses Gefühl am Taylor Swift Konzert. Da konnte ich meinem stereotypen Verhalten einfach nicht mehr entkommen.
Broadway Baby! Darauf bin ich vielleicht am eifersüchtigsten. In meiner Vorstellung würde ich während eines New York Trips jeden Tag ein anderes Musical sehen. Du kennst meine grosse Musical-Liebe und manchmal ist es einfach etwas traurig, nur die Cast-Aufnahmen auf Spotify hören oder illegal gefilmte Videos einer Aufführung auf YouTube schauen zu können. Book of Mormon ist nächstes Jahr aber in Zürich und ich glaube, du hast mich gerade überredet, Tickets zu kaufen.
Seth Meyers! Sehr cool! Wirklich viel cooler als Fallon!
Indianapolis hatte aufgrund meines zwischenzeitlichen Überkonsums an John Green Büchern und auch Videocontent immer einen Softspot in meinem Herzchen. Du hast Turtles All The Way Down empfohlen (kurzer Flex: ich habe aus irgendeinem Grund eine signierte Ausgabe der ersten Auflage zuhause), aber ich möchte erwähnt haben, dass der absolute Banger eines Buches The Fault In Our Stars auch in Indianapolis spielt! Das ist übrigens das erste Buch, das ich ganz auf Englisch gelesen habe, daher ist meine Ausgabe mittlerweile auch sehr zerfleddert, mit Leuchtstift markiert und mit vielen Bleistiftübersetzungen am Rand versehen. Ich habe es letztens gelesen und fand es gar nicht mehr so gut, aber als Teenie fand ich es das beste Buch, was ich zu diesem Zeitpunkt je gelesen hatte. Warst du im Park, wo die Skeletstatue ist, die im Buch so toll beschrieben ist?
In so einer richtigen Arcade war ich noch nie. Aber mit unserer Stieffamilie waren wir einige Male in so All-Inclusive-Resorts in der Türkei oder auf Mallorca und da gab es immer so einen ranzigen Raum mit einigen Spielmaschinen. Wir haben nach dem Znacht manchmal je fünf Euro bekommen und durften dort Kräne bedienen gehen und so. Diese Mini-Spielhallen waren auch immer krass heruntergekühlt, aber die Aufregung, als 12-Jährige mit den Brüdern an einem Flipperkasten zu stehen, reichte aus, um mich wieder aufzuwärmen.
Kamala! Schade, hast du sie nicht gesehen, lol. Wir sassen im SoLa im grossen Hock-Zelt am Abend bevor die Kinder anreisten, als ein Mitleiter verkündete, dass Biden seine Kandidatur zurückgezogen hatte. Das fühlte sich irgendwie monumental an. Eine Frau als Präsidentin wäre ein riesiges, wichtiges Zeichen. Ich muss aber gestehen, dass ich in ihre Politik nicht so eingelesen bin, und aber auf ihr Marketingteam ziemlich gut hereinfalle. Sehr geschickt das alles.
Bei mir war der Sommer eher ruhig sonst. Ich habe meinen Job in der Bibliothek begonnen, der mir bis jetzt gut gefällt. Ich habe auch viel im Tapas-Restaurant gearbeitet, wo ich meinen Job, den ich zwischenzeitlich gekündigt hatte wegen dem Verlagspraktikum, wiederbekommen habe. Ich lächle also an drei Abenden die Woche Leuten freundlich ins Gesicht, auch denjenigen, die frech und unhöflich sind, um möglichst viel Trinkgeld abzustauben. Manchmal hasse ich es mehr als an anderen Abenden. Wenn ich mit gewissen Leuten zusammenarbeite, dann mag ich es sogar ein bisschen.
Dann gab es aber zwei Highlights. Eines davon war natürlich das SoLa. Ich leite ja nicht mehr, war aber eine Woche lang kochen. Wir waren zu viert in der Küche und haben dort unseren Brat-Summer richtig ausgelebt. Wir haben eine Woche lang rumgeschrien, gelacht, gekocht (truly, mir sind nid nur ide Chuchi am choche gsi), im Fluss und See gebadet und viel zu viel geraucht. Ich schäme mich fast, es zuzugeben, aber es gab auch eine «Chuchi-Vape», die nach Traube schmeckte, oder wie wir sie nannten «Shisha-Truube», die wir mehrmals aufladen mussten. Zeitenweise wurde gevapt, während die Vape an eine Powerbank angeschlossen war. Manche würden das vielleicht als Tiefpunkt benennen, aber wie man so schön sagt: Es isch eifach e Vibe. Und du weisst ja, wie das im SoLa ist. Die Vibes überwiegen einfach. Statt abends schlafen zu gehen, vapt und raucht man halt bis in die frühen Morgenstunden und chillt im Raucher*innenbereich weit weg vom Lagerplatz und den schlafenden TNs. Das kompensiert man am nächsten Tag dann mit Kaffee, Mate, Energy und einem Powernap, wenn der drinliegt (meistens nicht). Wir haben auch meistens ganz stabil gekocht. Einmal war es etwas zu wenig und dann gab es noch diesen einen Tag, der einfach nicht unserer war. Ich beschreibe dir den Tag in 4 Fails unsererseits:
Am Morgen mussten wir um viertel vor sieben aufstehen (obwohl wir am Abend vorher um 2 oder so ins Zelt gingen), weil wir Fotzelschnitten zum Zmorge geplant hatten. Das lief auch alles ganz gut, bis es einen Ölbrand gab in einem der beiden Töpfe. Das Öl im Topf erhitzte sich zu stark und begann zu brennen, lol. Im Topf drin. Drei von uns konnten mit der Krisensituation nicht ganz so gut umgehen, schwirrten nervös herum und warfen schliesslich eine Löschdecke über den Topf. Wegen den Henkeln des Topfs kam aber trotzdem noch Luft dazu und es brannte weiter. Wir, immer noch ganz nervös, riefen die beiden Feuerwehrleute im Leitungsteam. Leider war diejenige von uns, die dafür zuständig war, sie zu wecken (da wir ja immer vor den Leitenden aufstehen mussten, um Zmorge zu machen), am aufgeregtesten und weckte die beiden mit «D Chuchi brennt!» Ein bisschen übertrieben, würde ich im Nachhinein sagen. Es war dann eigentlich ganz einfach den Brand zu löschen. Man musste einfach den Deckel auf den Topf legen. Die Löschdecke hätte es also gar nicht gebraucht, lol.
Die Szene ist: Fried Rice zum Zmittag. Wir sind schon etwas zu spät (nur so fünf Minuten, völlig im Rahmen), ich sage zu L. «Ich glaub, das isch irgendwie es biz zwenig.» Alle in der Küche stimmen zu, wir wissen aber nicht, was wir falsch berechnet haben. Wir stellen den Topf vor die Küche, die Kinder stehen bereits mit ihren Tellern an, dann kommt L. zu mir und sagt: «Oh mein Gott, weisch werum s zwenig isch?» Ich schüttle den Kopf. Habe noch nicht verstanden, was das Problem ist. L. sieht mich an, sagt dann: «Will no 4.5 Kilo Tofu im Chüehlschrank sind.»Vera, wir haben Fried Rice gemacht und den Tofu vergessen, den wir eingekauft haben. Wir haben also dem für den Tag zuständigen Leiter gesagt, dass wir uns um eine halbe Stunde verspäten, haben in einem unglaublichen Stress 4.5 Kilo Tofu aus dem Plastik gerissen, geschnitten, gewürzt, angebraten. Dann haben wir ihn unter den Reis gerührt und wir konnten essen. Was ein Fail. Vielleicht waren wir immer noch durch den Wind vom Brand am Morgen.
Znacht: Das war nicht so ein krasser Fail, sondern etwas, was in den grossen Militärtöpfen dieser Küche einfach passiert. Für die, die keine Vorstellung haben, füge ich hier ein Bild ein.*Bild vode Militärchuchi*Man muss mit Holz Feuer unter dem Topf machen. Heisst: Hitzeregulierung ist immer etwas schwierig (siehe Punkt 1 und den Ölbrand). Wir haben zu spät Feuer gemacht, weil wir damit beschäftigt waren, am Nachmittag eine Stunde lang im Fluss zu baden und danach noch je drei Zigaretten zu rauchen (im Bikini rauchen ist übrigens auch sehr Brat). Ups. Wir waren also wieder zu spät, das Wasser kochte nicht richtig und wir haben die Teigwaren verkocht. Es war eine einzige Pampe und echt nicht so geil. Dafür war die Tomatensosse und die selbstgemachte (!!!) Pesto lecker. Wir haben ausserdem extra viel berechnet, damit wir am nächsten Tag noch Teigwarensalat machen konnten, es wurde aber alles gegessen. Daher mussten L. und M. noch einmal ins Coop cruisen, um noch einmal 10kg Teigwaren zu poschten.
Der grösste und spektakulärste Fail: Wir haben, nachdem die Kinder alle im Zelt waren und schlafen sollten, die Teigwaren machen wollen für den Teigwarensalat am nächsten Tag. Als wir das Sieb mit den Teigwaren aber zu viert aus dem Topf hieven wollten (das ist verdammt schwer, will ich anmerken), ist uns das Sieb in der Küche auf den Boden gefallen. Lol. 10kg Teigwaren auf schlammigem Boden verstreut. Nachdem wir uns beruhigt hatten, nicht mehr ganz so fest lachen mussten, und die Teigwaren im Sieb einzeln mit dem Schlauch abgewaschen hatten, schworen wir, niemandem davon zu erzählen bis sie den Teigwarensalat am nächsten Tag gegessen hatten. Es war sehr schwierig. Vor allem M. und ich wollten es unbedingt unseren Brüdern erzählen, hielten aber dicht. Iconic.


Ja, das war ein trauriger aber vielleicht auch einer der witzigsten Tage. Um M. während dem Zähneputzen später zu zitieren: «Leute, hüt hämmer richtig driigschisse.» Aber dafür sonst nicht. Das Essen war okay, die Kinder mochten uns, weil wir ihnen nach dem Abwaschen immer ein Sugus gaben und uns immer aufrichtig bei ihnen bedankten, wir hatten eine gute Playlist, eine Trauben-Vape (Shisha Truube 4ever) und eine sehr lustige Woche. Schön war auch die Autofahrt vom Verkehrshaus zurück auf den Lagerplatz. Während der 40-minütigen Autofahrt haben wir sehr laut Musik gehört, immer wieder neue Lieder in die Warteschlange geschmissen und so sehr mitgegrölt, dass wir danach alle vier etwas heiser waren.
Das zweite Highlight ist, dass S. wieder hier ist. Es ist wunderbar, ihn wieder zu haben. Auch wenn es eigentlich nur sechs Wochen oder so waren. Hat sich doch ganz schön lange angefühlt. Jetzt ist es dafür wirklich schön, ihn wieder zu haben und ich hoffe, ich gewöhne mich nicht allzu schnell wieder an ihn.
Das ist wieder einmal ein langer Brief. Aber noch zu den Kategorien, dann bin ich endlich fertig.
Etwas zum Essen: Wir haben im SoLa wieder einmal frittiert. Aber dieses Mal nur mit zwei Flaschen Öl und keine Pommes, sondern selbstgemachte Falafel. Hat sich sehr gelohnt!
Etwas zum Glotzen: The Royal Tenenbaums. Ich habe in den letzten Wochen Wes Anderson Filme für mich entdeckt. Ich mag Geschichten über spezielle Leute, spezielle Familien, die so unglaublich absurd und abenteuerlich und einfach nur irrsinnig sind, und darin ist der Regisseur halt sehr gut. Ich weiss nicht, warum ich nicht schon früher auf den Wes Anderson Hype aufgesprungen bin. Fast hätte ich Grand Budapest Hotel empfohlen, aber die Tenenbaum Familie hat es mir doch noch ein bisschen mehr angetan. Ich habe sehr viel gelacht und am Ende auch ein bisschen geweint.
Etwas zum Hören: Guess von Charli XCX, aber die Remix Version mit Billie Eilish. Ich habe den «Brat Summer» wie oben erwähnt sehr zelebriert, daher empfehle ich allen, die es noch nicht gehört haben, die neuste Single. Banger.
Etwas zum Lesen: Just Kids von Patti Smith. Eine Autobiographie in der Patti Smith über ihre Beziehung zum Künstler Robert Mapplethorpe schreibt. Sehr eindrücklich, sehr wild, sehr geil. Wie ernst die beiden sich und ihre Kunst bereits anfangs ihrer Zwanziger nehmen können ist sehr inspirierend. Ausserdem lebten sie in New York (im legendären Chelsea Hotel), vielleicht ist das ja was für dich.
Wort der Woche: Weltseinsamkeit.
So, ich vermisse dich echt, Vera, und ich freue mich sehr fest darauf, dich wieder zu sehen! So Sommermonate ohne dich sind viel deprimierender als Wintermonate ohne dich, ich bin aber nicht ganz sicher, warum. Dafür gibt es bald einen fetten Debrief dieses Sommers auf deinem oder meinem Balkon mit Bier oder Eiskaffee, je nach Tageszeit. Ich freue mich auf dich!
Alles Liebe, Michelle
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