Liebe Vera
- Michelle Harnisch
- 17. Nov. 2023
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Jan. 2024
Zuerst möchte ich sagen: ich verstehe dich, wenn du deinen traurig-melancholischen Herbsttag beschreibst. Passiert manchmal. Hast du das regelmässig? Und weisst du, woher diese Tage kommen? Ich glaube, bei mir kommen sie häufig vor, wenn ich mich lange nicht genug mit mir selbst beschäftigt habe. Nicht so gut auf mich selbst gehört hab, wie sonst. Dann ist das manchmal ein guter Outlet. Mit dem Velo traurig und wirr umherfahren und sich selbst leidtun. Die Weite und die Lichter suchen, wie du schreibst. Aber dein Brief war überhaupt nicht schlimm oder zu chaotisch oder zu lang oder wie du ihn auch immer genannt hast. Und ich sage jetzt gleich, dass wir uns vornehmen sollten, uns in diesem Projekt nicht für unsere Texte zu entschuldigen. Manchmal hat man eben eine bessere, manchmal eine schlechtere Woche, und ich finde das wirklich in Ordnung. So ein Wortfluss kann, wie ein richtiger Fluss, manchmal überlaufen, manchmal austrocknen. Das ist nur natürlich. Ausserdem hast du immer noch sehr kluge Dinge geschrieben, finde ich. «Gedanken haben ist keine Kunst» zum Beispiel.
Um die Dinge kurz aus dem Weg zu räumen, die mich nicht ganz so doll beschäftigen wie dich, die ich aber trotzdem erwähnen/beantworten möchte: ich habe mir noch nie überlegt, welche Basler Brücken ich wo ansetzen würden. Hier also ein spontanes Ranking: 1. Wettsteinbrücke: meine meistbenutzte Brücke und sehr verbunden mit Rhyschwümme in meinem Kopf 2. Johanniterbrücke: vielleicht die schönste, aber ich bin kaum da, verbinde ich aber (wie das ganze St. Johann übrigens) immer mit unseren ersten paar Ausgangsabenden in Basel, macht mich also immer etwas melancholisch, aber auf eine gute Art und Weise (lässt mich vor allem an den Wasserstrasse-Abend denken <3) 3. Schwarzwaldbrücke: Nähe zu mir, benutze ich oft, wenn ich ins Kleinbasel möchte – Abzug wegen Autobahn :( 4. Mittlere Brücke: Summervibes, zu viele Leute, Trams, Busse, ich schwimme nie soweit beim Rhyschwümme 5. Dreirosenbrücke: ugly, zu viel Verkehr, zu weit aussen, bin nie dort
Dann weiter zu den Namensideen: ich hatte ehrlich gesagt noch keine einleuchtende. «Sonntagspost» schwirrte auch in mir rum, löst aber nicht sonderlich viel aus. Ich bin aber auch sehr uninspiriert in diesen Tagen und versuche, mir noch etwas Besseres einfallen zu lassen, dass ich dir dann auf WhatsApp mitteile.
Aber jetzt zum «elephant in the room», wie man im Englischen so schön sagt. Dein Brief hat mich etwas getroffen (nicht negativ gemeint). Ich war a) erstaunt, dass du mich doch so gut lesen kannst, obwohl mich das eigentlich nach all den Jahren intensiver Freundschaft nicht überraschen sollte, und b) fühlte ich mich erwischt. Durchschaut. Denn tatsächlich war ich in unserem Gespräch nachdenklicher und zweifelnder als sonst (die Traurigkeit hast du dir aber eingebildet, muss ich dir dennoch sagen). Nicht zweifelnd an uns, nicht an unserem Projekt, sondern an mir. Ich komme damit auch gleich zu deiner Eifersuchts-Analyse. Denn ja, du hast recht. Wenn es etwas gibt, womit ich mich sehr verletzlich gemacht habe, ist es mein Schreiben. Weil Schreiben und Bücher und Literatur und dieses Studium so sehr zu mir gehören. Weil das alles «mein Ding» ist, wie bei dir die Musik. Weil alle wissen, dass ich viel schreibe, dass ich mittlerweile zwei Bücher fertig und etwa sieben angefangen habe, spüre ich dann manchmal die Erwartungen. Nicht weil ich denke, irgendwer wartet auf meine Geschichten oder meine Figuren, die ich so gerne mit wem teilen würde. Sondern weil halt der naheliegendste Schluss ist, dass jemand, der schreibt, ein Buch veröffentlichen sollte. Seine Texte irgendwo einschicken sollte und dafür belohnt werden sollte. Mit einem Wettbewerbsgewinn, einem Vertrag, einem Buch. Wofür schreibt man denn sonst? Ich finde es krass beeindrucken, wie ernst du deine Kunst nehmen kannst. Dieser Mut fehlt mir. Ich spreche nicht mit Menschen über meine Texte, ich teile sie nur ganz selten mit wem, ich behalte das alles ganz nah bei mir. Denn auch wenn ich innerlich hoffe, meine Texte irgendwann einmal mit einem Publikum zu teilen, weiss ich doch auch, wie unrealistisch das ist. Ich habe mir meinem Schreiben bezüglich einen gewissen Zweckpessimismus angeeignet, um nicht allzu sehr enttäuscht zu werden. Anders als du rede ich mir nicht ein, dass ich was nicht möchte, sondern bin mir so sehr bewusst, wie sehr ich etwas möchte, dass die Enttäuschung dann unendlich gross ist. Denn sind wir ehrlich: ich weiss, wie das in Verlagen abläuft. Ich habe mein Manuskript letztes Jahr an zwölf Verlage geschickt und habe von einem einzigen eine Absage erhalten. Die anderen haben mir nicht einmal geantwortet. Ob die Manuskripte angeschaut wurden, weiss ich nicht. Denn ich arbeite selbst in einem Verlag. Ich weiss, was für eine Flut an Manus an einen so winzigen Verlag geschickt wird. Wie muss es dann bei S. Fischer oder Hanser oder Ullstein aussehen? Was braucht man für eine Selbstüberzeugung die Zeit der Lektorate überhaupt mit der eigenen Geschichte einnehmen zu wollen? Diese Selbstüberzeugung habe ich nicht immer.
Ich finde auch, in diesem Punkt bist du mir meilenweit voraus. Obwohl du behauptest, ein Amateurinnen-Privileg zu haben, stimme ich dir da nicht ganz zu. Denn auch wenn du nicht allen erzählst, was du willst, nimmst du dich ernst, nimmst deine Kunst ernst. Und wenn du dann ab und zu vielleicht hinfällst, hast du es doch probiert. Dann raffst du dich halt wieder auf und probierst es nochmals. Oder probierst was anderes. Ich finde das unglaublich wertvoll und bewundere dich sehr dafür. Finde es also überhaupt nicht feige! Das war jetzt, glaube ich, auch etwas wirr, daher hoffe ich, du verstehst mich. Mein Fazit ist jedenfalls: ich zweifle überhaupt nicht. Ich bin es nur nicht gewohnt, mich auf diese Art und Weise ernst zu nehmen, mir diesen Raum zu schaffen, mir diese Verletzlichkeit einzugestehen. Mich auch so auf was einzulassen.
Du hast auch geschrieben «kurz bahnte sich in mir der Gedanke auf, dass es nun vielleicht Dinge gibt, die wir uns besser schreiben können als sagen. (…) Das wäre schade, oder?». Das hat mich die ganze Woche begleitet. Denn mein erster Instinkt war es, das als Vorwurf zu lesen, auch wenn ich weiss, du meintest es nicht so. Denn auch damit hadere ich. Ich kann mich zumeist besser schriftlich ausdrücken. Und auch wenn ich dir all diese Sachen sagen würde, die ich in diesen Briefen schreibe, weiss ich, dass ich nicht die Hälfte spontan ausdrücken könnte. Darum gibt es eben, denke ich, schon Dinge, die ich dir nicht sagen, sondern nur schreiben kann. Das aber nicht, weil ich dir nicht vertraue oder mich schäme, sondern auch, weil ich diese Flut an Gedanken in mir nicht immer gleich kanalisieren kann. Nicht immer einfach so in eine Form bringen kann, wenn ich nicht fünf Mal Anlauf nehme. Hat also wirklich nichts mit dir zu tun. Mich umtreibt aber manchmal auch, was denn authentischer ist. Darum schreibe ich unter anderem so gerne. Denn ich fühle mich authentischer, wenn ich genau erklären kann, was ich meine. Wenn ich ausholen kann ohne Unterbrechung, ohne Reaktion eines Gegenübers. Einfach fliessen lassen und meine Gedanken teilen. Sobald da ein Gegenüber ist, ist das was ganz anderes. Ich weiss auch, dass es da ganz viele Theorien gibt, in die ich mich einreihen könnte. Walter Benjamin zum Beispiel sagte, dass wir nie wirklich authentisch sind, immer ein gewisser Grad an Performanz da ist. Weil wir immer von einem Publikum ausgehen, sogar wenn wir alleine sind. Ich hab das nicht mehr so präsent, weil ich den Text vor einigen Jahren für die Uni gelesen habe und nur noch Fetzen im Kopf habe. Ich habe heute auch nicht die Kapazität, meine Gedanken weiter auszuführen, diese Frage weiter zu verfolgen. Aber in den Raum stellen möchte ich sie trotzdem. Vielleicht findest du ja zum Zeitpunkt deiner Antwort Raum in dir für philosophische Überlegungen.
Ich will mich bedanken, dass du mir deinen BeReal-Text anvertraust. Texte, die man nicht explizit für andere schreibt, finde ich wirklich etwas Wertvolles. Von denen hüte ich viele und ich schätze es, teilst du sie mit mir. Ich habe mir das Allein-Sein in den letzten Monaten sehr bewusst antrainiert. Durch mein volles Programm unter der Woche, das ich ja im letzten Brief erwähnt hatte, bleiben mir häufig nur noch die Wochenenden. Mittlerweile bin ich sehr gut darin geworden, mir den Freitag freizuhalten und den Abend damit zu verbringen, Netflix zu schauen, ein bisschen zu stricken und um halb elf schlafen zu gehen. Wenn ich die ganze Zeit unterwegs bin, fühlt es sich gut an, einfach mal zuhause zu sein und nichts zu machen. Keine wilden Ansprüche an mich selbst zu stellen. Aber ja, ich gebe zu, auch mir fällt es häufig immer noch schwer. In öffentlichen Räumen sowieso. Ich bin wirklich froh, bin ich diesen Sommer alleine nach Paris gefahren. Es war eine Art Feuerprobe für mich, denn sonst umgebe ich mich ja wirklich häufig mit Menschen. Es war toll, einfach zu machen, auf was ich Lust hatte. Bis zwölf Uhr im AirBnb zu bleiben, weil ich gerade ein spannendes Buch las. Mich nicht anpassen zu müssen. Alleine in langen Schlangen vor Touri-Orten anzustehen und danach dafür die Aussicht von der Sacre-Coeur oder die Winkel in diesem basic Buchladen, den alle besuchen, zu geniessen. Ich würde gerne noch viel öfter alleine Dinge unternehmen, alleine wegfahren.
Wenn du aber, wenn ich das richtig verstanden habe, momentan zu viel Me-Time hast, dann empfehle ich dir trotzdem einen Vereinssport. Wenn du was hobbymässig machst, dann kannst du dort auch von Anfang an sagen, dass du halt unregelmässig arbeitest. Denn wenn ich Sophie Passmann eines zugestehen kann, dann ist es, dass ich auch finde, dass es schade ist, haben viele Mädchen/Frauen keine so richtigen Hobbys. Ich finde deine «Ausrede» (ist jetzt ein bisschen gemein, sorry) also nur halb überzeugend.
Zum Abschluss noch eine Antwort auf deine Sex-Frage: ich kann mir gut vorstellen, nur mit einer Person zu schlafen. Ist wirklich ein Thema, das mich praktisch überhaupt nicht stresst.
So, mein Zug kommt jetzt gleich in Basel an. Und in zwanzig Minuten haben wir uns verabredet. Und du fragst dann bestimmt nach diesem Text. Darum beende ich ihn an dieser Stelle. Auch ich bin weniger inspiriert als an anderen Tagen. Aber das ist in Ordnung.
Bis bald, bis gleich, bis irgendwann!
Alles Liebe, Michelle
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