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Liebe Vera

  • Michelle Harnisch
  • 20. Okt. 2024
  • 8 Min. Lesezeit

Danke, danke für den letzten Brief! Ich habe ja schon lange um einen Rugby-Brief gebeten, das weisst du. Da erscheint es mir passend, dass du von eurem ersten Sieg (den ich live gesehen habe, juhui) geschrieben hast. Du meintest noch, du denkst, dass du dich langsam wiederholst. Das tue ich diese Woche vielleicht auch, denn ich bin nicht sicher, ob ich schon einmal über Frauen*sportteams geschrieben habe, aber das ist auch schon eine ganze Weile auf meiner Liste. Darum: keep reading!

 

Zuerst aber auch noch danke für die Rugby-Erklärung. Ich hab zwar immer noch nicht alles gecheckt, aber naja. Kommt schon noch. Als ich den Match von dir letzte Woche mit zwei Freundinnen geschaut hab, waren wir uns auch nicht ganz sicher, was da so ganz abgeht. Als drei Handballerinnen mussten wir zugeben, dass wir (Achtung, problematisches Wort, aber ignorieren wir diesen Blindspot von mir) schon ein bisschen Pussys sind. Wie ihr euch da gefetzt habt, war heftig. Wir waren uns nie sicher, ob alles Herumreissen aneinander ganz legal ist oder ob es Tabuzonen gibt, aber es wurde selten bis nie abgepfiffen, darum nehme ich an, es ist ziemlich viel erlaubt. Handball ist ja auch eher ein grober Sport, aber schon nichts im Vergleich zu euch. Vor allem ich auf dem Flügel komme da meistens ganz glimpflich davon, was den Körperkontakt angeht. Ausserdem habe ich mir gedacht, dass eine Sportart draussen, glaube ich, nichts für mich wäre. Zum einen ist es sehr cool, immer draussen zu spielen, aber als es dann Ende der zweiten Halbzeit zu regnen begonnen hat, wurde es schon als Zuschauerin ungemütlich. Ich hätte keine Lust gehabt, da noch rumzurennen und getackelt zu werden.

 

Aber nun zu Frauen*teams im Amateur*innensport! Alle Liebe den Frauen*teams! Wirklich! Du hast das ganz schön beschrieben. Dass es gerade für Mamis, glaube ich, eine wichtige Abwechslung, ein Ausgleich sein kann, auch wenn ich das nicht nachempfinden kann. Habe ich auch schon von Mitspielerinnen gehört. Für mich ist das Training meistens auch einfach ein schöner Abschluss des Tages. Mit anderen Frauen* Sport zu machen, sich auszukotzen, sich auch ein bisschen zu messen, aber vor allem gemeinsam zu spielen, als Team zu funktionieren. Rein weibliche Sphären sind für mich selten mit so viel positiver Energie aufgeladen, selten ist da so viel Teamgeist, zu oft gibt es da diese Rivalitäten, die wir, glaube ich, doch beide kennen. Ich versuche kontinuierlich, mir dieses Mindset, mich zu sehr mit anderen Frauen* zu vergleichen, abzutrainieren, aber natürlich bleibt das immer noch schwer. Ich müsste das jetzt vielleicht feministischer und theoretischer ausformulieren, aber ich hoffe, du verstehst, was ich meine. Dieses «not-like-other-girls» Gedöns ist manchmal immer noch ein bisschen zu sehr in mir drin, auch wenn ich das jetzt besser einordnen kann, als ich das als Teenagerin konnte.

 

Reibereien sind natürlich auch bei uns ein Thema, es wird viel geredet. Zugegebenermassen auch viel hinter dem Rücken anderer, aber vielleicht gehört das einfach dazu? Bei 30 Personen, die sich so regelmässig sehen, ist es irgendwie unvermeidlich, dass sich nicht alle verstehen. Die folgenden Krisensitzungen (von denen einige schon mehrere hatten, ich nur wenige) sind zwar nicht sonderlich angenehm, aber man lernt Leute doch noch einmal besser kennen durch solche Gespräche, bei denen man offen dazu aufgefordert wird, Klartext miteinander zu reden. Obwohl ich keine Rollenbilder reproduzieren möchte, weiss ich auch, dass es in den Herren*mannschaften meistens nicht so viele unnötige Streitereien gibt, wie bei uns. Ist es also doch ein Frauen*problem? Was meinst du?

 

Wenn wir schon bei Stereotypen sind, möchte ich auch noch betonen, was meine Lieblingsmomente sind. Wir in unserer überwiegend weiblichen Freund*innengruppe haben auch häufig solche Momente, ich denke, du weisst, was ich meine. Ich meine diese Aufgedrehtheit, diese Ausgelassenheit, wie ich sie selbst oft verspüre. Ein Frauen*team lässt oft viel Platz dafür. Rumgeschreie in den Duschen nach einem Match, lautes Gelächter in einem Restaurant, generell dieses Laut-Sein und Raum-Einnehmen, ohne sich ständig dafür zu entschuldigen. Das gefällt mir am besten an Frauen*gruppen. Ich habe manchmal das Gefühl, es nehmen sich alle ein bisschen weniger zurück, als sie es in anderen Momenten vielleicht tun würden. Ich verfalle hier in binäre Geschlechterstereotypen, aber vielleicht ist halt schon was an ihnen dran. Wie empfindest du das so?

 

Ich bin gerade etwas in einem «Rabbit-Hole», was dieses Thema allgemein angeht: Sport und Altern und Frauen*. Im letzten Brief hab ich ja diesen feministischen Text aus dem 19. Jahrhundert von Hedwig Dohm empfohlen, die eben über das Altern von Frauen geschrieben hat – Werde, die du bist! Das hab ich im Rahmen des Seminars «Verfemte Frauen: Hexen, Witwen, Prostituierte» gelesen, das unter anderem solche hexischen Frauenbilder in der Literatur thematisiert. Sehr tolles Seminar, wirklich! Jedenfalls musste ich diese Woche mit zwei anderen Studentinnen Dohms Text präsentieren und die Novelle in Verbindung bringen mit einem Essay von Susan Sontag aus dem Jahr 1972, indem sie ebenfalls über das Altern schreibt – The Double Standard of Aging. Man muss sagen, dass nicht alles aus dem Essay meeeeega gut gealtert ist, aber in seiner Kernaussage, ist es immer noch wirklich ein sehr starker Text. Dort schreibt sie halt auch davon, wie es eben für Frauen (hier ohne Stern, denn ihr Gender-Verständnis ist noch sehr binär geprägt) ein anderes Älterwerden ist, als es das für Männer ist. Wirklich knapp zusammengefasst sagt sie unter anderem, dass ein Mann an Wert gewinnt, wenn er älter wird, da er in der Theorie dann halt mehr Geld, mehr Wissen, mehr Erfahrung hat. Bei Frauen wird das aber nicht so angesehen, sondern da zählt das Äussere viel mehr, wird viel höher gewertet. Ihr Wissen, ihre Erfahrungen, ihr Geld ist dann eben nicht das, was sie ausmacht im Alter, sondern immer noch ihr Aussehen. Dadurch erfährt sie auch eine viel krassere Abwertung als es die Männer tun. Sontag geht dann auch noch auf Altersunterschiede in Beziehungen und so weiter ein, greift ganz viele Sachen auf, die echt interessante Anstösse geben.

 

Jetzt, wo ich diesen Rahmen gegeben habe, komme ich zu meiner Leseempfehlung für die Woche. Du meintest zwar, du willst keine Bücher empfehlen, die du noch nicht fertighast, aber das tue ich jetzt halt trotzdem. Ich lese gerade Eat, Sweat, Play von Anna Kessel, einer britischen Autorin und (Sport-)Journalistin, bin so in der Hälfte. Damit die Kritik aus dem Weg geräumt ist: auch Kessel fällt oft in etwas zu dolle Binaritäten, Körper ausserhalb der Norm werden nicht sonderlich gut integriert und manchmal wird sie etwas polemisch, häufig auch pathetisch und etwas kitschig. Aber der Text ist interessant und genügend gut auf Quellen gestützt, dass ich ihr das vergebe. Das Buch ist schon lange auf meiner Liste und jetzt habe ich es endlich angefangen. Es geht da eben gerade um weibliche Sportsphären, sei das im Privaten, in der Schule, aber auch im Profisport. Man muss sagen, dass das Buch von 2016 ist, das heisst, gerade was den Profisport angeht, ist schon nicht mehr alles ganz so aktuell. Ich glaube, da hat sich viel getan (ich denke da fröhlich an den Ansturm auf die Tickets für die Frauen-Fussball-EM nächstes Jahr in Basel). Natürlich gibt es aber immer noch viele Baustellen (von der Frauen-Handball-EM in Basel in diesem Jahr habe ich bswp. noch praktisch nichts gehört und die ist in zwei Monaten). Das Buch geht aber eben auch auf dieses Ideal des schön und jung bleiben ein, welches zwar, glaube ich, mittlerweile auch bei Männern* verbreiteter ist, aber eben immer noch sehr stark Frauen* betrifft. Kessel schreibt sehr ausführlich davon, warum sie es so wichtig findet, dass Frauen* eben Sport zusammen machen, in einem Kontext, in dem nicht der Körper im Vordergrund steht.

 

“But sport for women is seen as distinct from all this activity. Sweating from sporting exertion is not seen as beautiful. Its raison d’être strays too far from appearance. And that’s precisely why sport is so important for women. It’s a rare moment in our lives, when the emphasis is on playing, being in the now. It’s also about determination and grit, not losing a few pounds or looking great, but absolutely wiping the floor with your opponents. It’s about winning, showing aggression, being competitive, openly rejoicing and being proud in doing all of these things. It’s also about fun. And, when we really think hard about it, women are not encouraged to have fun very often.” (p. X, Introduction)

 

Und um diesen langen Exkurs abzuschliessen, möchte ich nur noch einmal betonen wie grosse Fan ich von Vereinssport bin. Denn das ist eben doch irgendwie auch ganz schön wichtig. Sport zu machen des Sports wegen, der Leute wegen und nicht wegen dem Gedanken, abnehmen zu müssen oder einem Ideal zu entsprechen. Denn wenn ich nach eineinhalb Stunden verschwitzt in der Halle stehe, das nasse T-Shirt am Rücken klebt, ich schwer atme, und alle Babyhärchen sich aus meinen Zöpfen lösen denke ich nicht an mein Aussehen. Die Halle ist dann ein genügen sicherer Ort, dass ich Sachen wie Aussehen, Gewicht, etc. eben auch mal vergessen kann, weil in diesem Moment ganz andere Dinge viel wichtiger sind. Wenn ich alleine Sport mache, kann ich das nicht immer. Und ich glaube, das wäre vielleicht, gerade als ich jünger war, auch wichtig gewesen. Vermutlich noch wichtiger als jetzt. Vielleicht denke ich aber auch gerade zu viel über solche Sachen nach.

 

Ich wollte trotzdem noch einen kurzen Abriss meiner Woche geben, denn gerade sind meine Tage immer noch sehr durchzogen. Ich spüre den Herbst stärker als in anderen Jahren, hoffe sehr fest, dass es nicht die Quarter-Life-Crisis ist, die sich hier zwei Monate vor meinem 25. Geburtstag langsam anschleicht. Um nicht zu sehr darin zu versinken, hier nur die schönen Sachen:

 

  • Sonntagsspaziergang mit S. durch Luzern, teils im Regen

  • gelungene Präsentation in der Uni

  • ein produktiver Mittwoch: ich habe meine Steuererklärung (endlich!) gemacht und habe mein Rennvelo (endlich!) zum Mech gebracht

  • Znacht bei einer Freundin von S. und ihrem Freund (zuerst habe ich geschrieben: «Znacht mit einem befreundeten Pärchen», aber das klang zu alt…)

  • mein Zimmer ist auch nach fünf Wochen immer noch aufgeräumt (for real, das ist ein neuer Rekord für mich und ich finde das viel zu krass)

  • Viben am Freitagabend mit Pizza in meiner Küche und Zigaretten auf dem Balkon

  • der unerwartet gewonnene (juhui!!!) Handballmatch nach vier Wochen Match-Pause (Endstand: 16:21)

  • Dominik Muheims «Softice» live in Olten – absolutes Banger Bühnenprogramm, wirklich grosse Empfehlung!

  • Vitra Museum mit S. (Minus die Nike-Ausstellung, die lohnt sich nicht)

 

Nun aber zu den Kategorien, ich habe genug geyappt.

 

Etwas zum Glotzen: Das Chicken Shop Date von Amelia Dimoldenberg mit Andrew Garfield zu ihrem 10-jährigen Jubiläum der Show. It’s been a long time coming und sie haben nicht enttäuscht: https://www.youtube.com/watch?v=eFS5vxYlfY8

 

Etwas zum Hören: Meine Vor em Match Playlist, die mich unnormal aufheizt:  https://open.spotify.com/playlist/4673ovPvtDviOwJkQjOC6o?si=98852f0e43724837 Falls du aber keine Zeit für eine ganze Playlist hast, und ich ein einzelnes Lied empfehlen sollte, dann Bikini Grell von Ikkimel. Ich mag ihre Künstlerinnenfigur gerade etwas zu sehr und finde sie ganz schön cool (sie hat auch Literaturwissenschaften studiert, iconic 💁‍♀️).

 

Etwas zum Essen: Es wird wieder dunkler, die Tage kürzer und ich immer wie müder. Obwohl du sie auch schon empfohlen hast, wiederhole ich dich als Reminder an mich selbst: Eisentabletten.

 

So, wieder einmal ein langer Brief. Ich gebe zu, es ist das erste Mal seit einer Weile, dass ich mir wieder wirklich Zeit genommen habe, um auf dich zu reagieren, auch viele Sätze schon im Kopf bereit hatte. Manchmal kommen ja diese Schübe. Ich freue mich auf deinen nächsten Brief, deine Praktikumsstories, hoffentlich weitere Rugby-Siegesgeschichten oder einfach deine Gedanken, die Belanglosigkeiten deines Alltags. Ich denke an dich und unsere Briefe und daran, dass wir schon ein ganzes Jahr aneinander schreiben, obwohl wir noch nicht so lange posten. Für zwei Leute, die zwar stark für Dinge brennen können, die jedoch nicht immer ganz so gut durchziehen können, finde ich das echt eine Leistung, und ich bin doch ein bisschen stolz auf uns. Ich freue mich, weiterhin ausführlich von dir zu lesen, trotz der Tatsache, dass wir uns drei Mal die Woche sehen.

 

Han di gärn und heb der Sorg,

Michelle <3

 

PS: Mir ist gerade aufgefallen, dass du immer an «Michelle» schreibst, ich immer mit «Michelle» unterschreibe, obwohl du mich ja sonst gar nie so nennst. Haben wir das eigentlich mal abgemacht oder ist das einfach eine schriftliche Formalität? Hab ich noch gar nie hinterfragt, lol.

 
 
 

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