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Liebe Vera

  • Michelle Harnisch
  • 22. Dez. 2023
  • 5 Min. Lesezeit

So, jetzt, ein letzter Brief vor Weihnachten. Mit viel Verspätung und wohl kürzer als sonst. Denn ich bin ehrlich, diese und letzte Woche waren nicht meine besten. Die kommenden Feiertage zehren an meinen Energiereserven, die sowieso schon klein waren, ich bin im Verzug mit meinen Geschenken und hinzu kommen ganz viele Termine, die in dieser Endjahreszeit halt so anstehen. Mein Stresslevel ist hoch, viel zu hoch, und gerade ist einfach alles ein bisschen viel. Aber seit gestern kann ich mich wieder etwas entspannen. Im Büro herrschte bereits gestern (ein Donnerstag) eine Art Freitagsstimmung, weil es für viele der letzte Arbeitstag im Jahr war. Heute hüten nur noch mein Chef (der nette) und ich das Büro und auch bei uns herrscht die angemessene Freitagsstimmung. Wir bleiben gemütlich, reden ab und zu, er erklärt mir die Geschichte des Verlags. Für den Moment bin ich entspannt, beantworte die letzten Mails, kaum eine*r ruft mehr an, und ich habe das Gefühl, wieder etwas ruhiger atmen zu können. Ich habe am Montag extra meinen Laptop mitgenommen, um am Abend im Zug schreiben zu können. Schreiben am Morgen liegt mir nicht so gut. Jedenfalls nicht gleich nach dem Aufstehen. Anyways, wir waren abends nach dem Arbeiten noch etwas trinken. Es war sehr schön, auch wenn man sich am Mittag hinsetzt und miteinander redet, wir die Buchmesse gemeinsam hatten, ist es doch etwas anderes, so ganz losgelöst von der Arbeit miteinander Zeit zu verbringen.


Ich habe dann also erst um viertel nach acht im Intercity nach Basel zu schreiben begonnen, war etwas zu ehrlich, bin in die Tiefe gegangen mit meinen Unsicherheiten, meinen Ängsten und landete in einer Gefühlsspirale, die so gar nicht förderlich für mein Stresslevel war. Leider muss ich dir sagen, dass dieser Text, den ich da geschrieben habe, niemals gezeigt werden wird, weil er so selbstbemitleidend war. Als ich zuhause war, habe ich S. weinend angerufen. The most wonderful time oft he year. Oder so.  Ich habe den Text dann nochmals gelesen am nächsten Tag, als ich gefasster, ausgeschlafener war, und konnte zum Glück feststellen, dass der Text weder ehrlich noch realistisch war. Denn was ich beschrieben hatte, waren nicht meine wirklichen Gefühle gewesen, sondern eine gesteigerte Form davon. Wenn ich darüber nachdachte, war das alles gar nicht so schlimm, wie ich das beschrieben hatte. Das passiert mir manchmal. Dann muss ich einen Schritt zurückmachen und das nochmals betrachten. Und obwohl ich keine Geschlechtsstereotypen fördern möchte, muss ich vielleicht doch auch noch erwähnen, dass ich meine Tage hatte. Ist also bestimmt ein Mitgrund für die schlechte Laune gewesen. Ich möchte aber nicht länger über meinen Stress schreiben, wo ich ihn ja mittlerweile etwas ablegen konnte.


Ich kann leider nicht zu sehr auf deinen Brief eingehen, weil ich ihn gerade nicht bei mir habe. Und das Wichtigste haben wir schon besprochen. Lieber möchte ich von einigen Dingen schreiben, die mich beschäftigt haben, die mir widerfahren sind. Gestern zum Beispiel (besagte Freitagsstimmung war wirklich on fire) hat mein Chef mir mit viel Ausholen von einem Autor erzählt, der ein Buch bei uns veröffentlicht hat. Er ist dann auf die Geschichte des Verlags zu sprechen gekommen, auf die sozialistische Bubble zu Gründungszeiten, etc. Viele unserer Autoren stammen ja aus diesem Milieu. (Randbemerkung: Es ist übrigens wirklich schön in einer Firma zu schaffen, welche die gleichen, oder zumindest sehr ähnliche, Werte vertritt wie man selbst.) Jedenfalls hat er mir plötzlich einen Ordner auf den Tisch gelegt, in dem die Fiche des Verlags abgelegt war. Ich habe in letzter Zeit viel über die Fichenaffäre gelesen und geschaut. Mich hat es sehr beschäftigt, wie ein Staat, ein kleiner wie die Schweiz, Menschen auf diese Art beobachtet, was das für Auswirkungen auf Privatpersonen haben kann. Ich glaube nun auch besser zu verstehen, wieso es schwerfallen kann, einem Staatsapparat zu vertrauen. Das soll jetzt kein grosses Statement sein, dazu habe ich mich zu wenig eingefuchst in Theorien, in die ich meine Gedanken, die vorerst oberflächlich bleiben, einreihen könnte. Aber diese Fiche auf dem Tisch zu haben und zu lesen, was da wirklich aufgeschrieben und beobachtet wurde, was ihnen nennenswert erschien, nur weil einige kommunistische, anarchistische, sozialistische Personen in diesem Verlag veröffentlicht wurden, das war ziemlich krass.


Ich habe in letzter Zeit auch wieder mehr Sachbücher gelesen und habe vielleicht endlich den Gefallen an philosophischen Abhandlungen gefunden, man glaubt es kaum. Ich lese auch immer noch viel über Israel, Palästina und den Nahen Osten, versuche gleich viel über die Ukraine und Russland zu lesen, obwohl es mir nicht gelingt. Vielleicht rührt meine persönliche Absenz von Weihnachtsstimmung auch daher. Bereits in den letzten Jahren war das spürbar für mich. Aber gerade fällt es mir schwerer als sonst, diese säkularisierten Feiern des Fests der Liebe zu geniessen. Diese Schere zwischen Ungerechtigkeit bei ihnen und Unbeschwertheit bei uns kann ich nicht ausblenden. Vielleicht ist das aber auch gut so. Ich kann mich selbst besser aushalten in diesem Zwiespalt als mit einer Abgebrühtheit und dem Wegschauen. Wie geht es dir damit? Ich weiss, dass dich diese Kriege sehr beschäftigen. Wie versuchst du das zu handhaben während dieser Adventszeit? Und dann die noch grössere Frage: Verübelt man es den Leuten, die es eben schaffen, das alles für eine Weile auszublenden?


Ach ja, die Festtage. Ich finde es schon so nicht immer einfach, Weihnachten auszuhalten, unabhängig vom Weltgeschehen. Denn wie du weisst, fahren mein Bruder und ich jeweils von Fest zu Fest – geschiedenen Eltern zu verdanken – und essen drei Mal am Stück Raclette. Weil „Ja, das seid ja nur ihr, die halt drei Mal dasselbe essen, alle anderen feiern halt nicht so viel und essen etwas anderes. Raclette finden alle so toll.“Das war jedenfalls die unterschwellige Diskussion der letzten Jahre. Dieses Jahr gibt es zwei Mal Raclette und einmal Omelette. Oder Pancakes. Auf so einem extra Pancake-Ofen, der aussieht wie ein Raclette-Ofen, oben aber so runde Dellen hat, wo man seinen Teig drin braten kann. Mein Bruder und ich haben versucht, ein Veto einzulegen, das hat aber nicht geklappt. Wie all die anderen Jahre auch nicht. Das klingt jetzt aber alles sehr negativ und ich möchte schon betonen, dass ich mich freue, meine Familie wiederzusehen. In der Schweiz fühlt sich manchmal schon die Stunde Zugfahrt nach Bern nach einer Ewigkeit an – je länger ich jeden Tag eine Stunde auf Zürich pendle, desto weniger stimmt diese Aussage – und da ist es schön, wenigstens während dieser Tage alle wieder einmal zu sehen. Wie ist das bei euch eigentlich mit der Sitzordnung? Bei meinem Vater sitzen wir nämlich alle an einem Tisch, während wir bei der Familie meiner Mutter immer noch einen mit einem Grinsen benannten «Kindertisch» haben. Mit eigenem Raclette- oder eben Pancake-Ofen jeweils. Und ich frage mich, ob drei Generationen sich je wirklich auf einer Augenhöhe begegnen können, wenn es immer noch einen Erwachsenen- und einen Kindertisch gibt, obwohl alle Enkel seit mindestens drei Jahren volljährig sind. Bei der erweiterten Familie meines Vaters gibt es dann meistens zwei Tische, und man verteilt sich einfach irgendwie. Und mein Bruder und ich schnappen uns dann die Plätze neben unserem neunjährigen Cousin und der elfjährigen Cousine, und ihren Eltern, die einzigen, die offener und weniger konservativ ist als der Rest der Gruppe. Verziehen uns dann meistens auch schnell mit den Kindern, um mit ihnen ein Spiel zu spielen. Ich werde also bestimmt viel zu erzählen haben in meinem nächsten Brief. Den ich hoffentlich rechtzeitig fertigbekommen werde. Ich freue mich auf deine Festtagsgeschichten und bleibe gespannt. Ich freue mich ausserdem auf unser Adventssingen, das Glühweintrinken und Weihnachtsfilmschauen morgen. Und obwohl ich mich sehr bemüht habe, mich nicht zu entschuldigen trotz meinem schlechten Gewissen, sage ich es jetzt hier am Schluss: Sorry für die Verspätung. Von nun an wirklich keine Entschuldigungen mehr. Und hoffentlich keine Verspätungen.


Alles liebe und bis bald! Heb der Sorg <3


Michelle




 
 
 

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