Liebe Vera
- Michelle Harnisch
- 5. Jan. 2024
- 8 Min. Lesezeit
So, es ist wieder Freitag. Zwar eine Woche zu spät, aber immerhin haben wir unseren Rhythmus jetzt wieder. Diese Woche fiel es mir etwas schwerer, an diesen Brief zu denken, denn ich wusste nicht, was ich schreiben sollte. Auch wenn ich von Anfang an wusste, dass wir die Texte irgendwann veröffentlichen würden, fühlt es sich jetzt doch gleich etwas einschüchternder an, wo wir bereits einige Rückmeldungen erhalten haben. Auch wenn alle Nachrichten, die ich bisher bekommen habe, sehr nett waren. Ich werde trotzdem versuchen, ehrlich zu bleiben. Mal sehen.
Nicht nur deswegen habe ich das Schreiben an dich aber herausgeschoben. Manchmal bin ich so voll mit Geschichten, mit Figuren, mit Worten, dass ich das Gefühl habe, niemals auserzählen zu können. So geht es mir jetzt gerade, und dann fällt es mir schwer, über mich selbst zu schreiben, wo mir doch alles Erfundene so viel interessanter scheint. Denn neben meinen Hirngespinsten finde ich meine wirklichen Gedanken kaum erzählenswert. Das führt mich auch dazu, dass ich gemerkt habe, dass ich deine Fragen zum fiktiven Schreiben gar nie beantwortet habe. Du meintest vor einigen Wochen, dass du meistens über dich selbst schreibst oder auch Dinge, die du irgendwo siehst, beschreibst. Dass du es schwierig findest, nicht in Klischees zu verfallen beim Schreiben über fiktive Figuren. Und ich glaube, dazu kann ich nur sagen, dass es halt Übungssache ist? Nicht, dass ich irgendeine Autorität darüber hätte, zu entscheiden, was gut geschrieben ist oder nicht (Naja, ein bisschen schon vielleicht, sind wir ehrlich. Manuskripte sichten und aussortieren gehört immerhin zu meinem momentanen Job.). Jedenfalls glaube ich fest an "Übung macht die Meisterin", auch wenn ich nicht immer gleich gut darin bin, solange zu üben, bis ich etwas gut kann - meistens vergeht mir die Lust dazu bevor ich eben eine Meisterin bin. Jedenfalls habe ich in der Woche zwischen den Jahren wieder einmal mein Zimmer aufgeräumt und den Roman gefunden, den ich mit vier-/fünfzehn geschrieben habe. Und auch wenn es schön ist, diese Dinge immer noch zu haben, zu lesen, was mich mit vierzehn so sehr beschäftigt hat, war es doch auch sehr unangenehm. Ich hatte eine Cringe-Erfahrung im wörtlichen Sinn, alles in mir hat sich zusammengezogen und ich fragte mich, wie ich je dachte, dass mir da was gelungen war. Ich bin also gespannt, wie wir in zehn Jahren auf diese Texte zurückschauen, lol.
Nach diesem Schreiben übers Schreiben möchte ich aber zu anderen Dingen kommen, die tatsächlich geschehen sind und nicht nur in meinem Kopf stattgefunden haben. Die Feiertage waren gut. Obwohl wir von Feier zu Feier gereist sind, war es doch schön, alle wieder zu sehen. Die Tischordnungen, die ich aufgezählt hatte, wurden über den Haufen geworfen, sogar am 25. Dezember bei der Familie meiner Mutter gab es nur einen grossen Tisch. Mein Bruder versteht meine Abneigung dem "Kindertisch" gegenüber nicht und lacht mich gerne deswegen aus, aber ich fand es schön, mit allen zu essen, statt diese Trennung zu machen. Wie jedes Jahr ergab sich auch irgendwann die natürliche Gender-Unterteilung, die in dieser Runde häufig stattfindet. Sehr klischiert. Meine Cousins, mein Bruder, mein Onkel verschwanden im Keller, um Dart zu spielen, während Mama, mein Gotti, mein Grosi und ich zusammen auf dem Sofa sassen und redeten. Diese Momente schätze ich immer sehr. Auch am 24. bei meinem Vater und meiner Stieffamilie war es wirklich schön. Ich bin aber auch froh, habe ich im letzten Jahr gelernt, dass es in Ordnung ist, früher von einer Party zu gehen, wenn man müde wird oder es einem zu viel wird. Das habe ich dann so um halb zwölf auch gemacht und der eine meiner Stiefbrüder ist auch mit mir mitgekommen. Am 26. dann waren wir bei der Familie meines Vaters, was auch sehr schön war. Die einzige Weihnachtsfeier, wo noch Kinder dabei sind (meine Cousine und mein Cousin), und ich finde Weihnachten mit Kindern ist schöner als ohne. Sie verleihen dem ganzen noch einmal ein wenig mehr Magie, freuen sich ehrlicher über Geschenke, erzählen sehr lustige und auch sehr kluge Dinge und auch nicht so kluge. Aber das kennst du ja aus der Pfadi. Du weisst, dass ich mich einfach sehr gerne mit Kindern unterhalte, vor allem wenn man spüren kann, was sie so wirklich beschäftigt. Das ist nicht immer ganz einfach und dann umso belohnender, wenn sie sich einem anvertrauen. Es war also unspektakulär, ein bisschen stressig, aber doch alles sehr wunderbar.
Ich liebe deine Beschreibung von Weihnachten in Frankreich. Das klingt alles ganz crazy und sehr anders als ich es mir von meinen Festen gewohnt bin. Vor allem fand ich es schön, hast du dieses schöne Erlebnis aus deinem Austausch mitgenommen, denn ich weiss noch, dass der Austausch eine ziemliche Achterbahnfahrt für dich war. Ich habe nämlich doch noch einige E-Mails in meinem Postfach, die wir währenddessen hin und her geschickt haben. Ähnlich wie diese Briefe sogar. Einfach sehr durcheinander, sehr emotional immer, sehr dramatisch – wir waren halt siebzehn.
Dann, hake ich in einem Themenwechsel gleich noch deine Frage nach guter Fachliteratur ab. Leider kann ich dir nicht sonderlich viel empfehlen, denn ich lese momentan vor allem Zeitung. Verschiedene Medien, verschiedene Portale und versuche, darin irgendein Verständnis zu finden. Es bleibt immer noch schwer. Ich kann dir aber die Liste der Solothurner Literaturtage voller Themenliteratur zu Israel und Palästina empfehlen. Ich habe einige Titel angefangen, bin aber noch nirgends genügend weit gekommen, um mit gutem Gewissen eine Empfehlung auszusprechen. Du findest die Liste hier: www.literatur.ch/de/news/eine-vielstimmige-vertiefung
Weil ich aber grosse Fan von Listen bin, möchte ich andere Bücher mit dir teilen. Bücher, die nicht alle anspruchsvoll und schwierig und Fachliteratur sind, sondern die ich in diesem letzten Jahr einfach genossen habe. Ich zähle rückwärts meine Top 10 Bücher, die ich 2023 gelesen habe, hinunter. Here goes:
10. Taylor Jenkins Reid: Malibu Rising (Random House LLC US)
Ich hab das Buch so schnell gelesen, so toll gefunden, kann es aber nicht mit gutem Gewissen höher platzieren – aber du weisst, ich mag Sportbücher, ich mag Geschichten über Geschwisterdynamiken und das hat beides, es holt mich einfach ab.
9. François-Henri Désérable: Mein Meister und Bezwinger (Rotpunktverlag)
Dir gefiel dieses Buch nicht sonderlich, aber ich war ganz verliebt in diesen Roman. Ausserdem bin ich hochgradig voreingenommen, weil das das erste Buch war, bei dem ich einen Teil mitlektorieren durfte.
8. Daniel de Roulet: Ein Sonntag in den Bergen. Ein Bericht (Limmat Verlag)
Das ist der Dude, der Axel Springers Chalet angezündet hat und 30 Jahre später, als der Fall verjährt war, ein Buch darüber geschrieben hat – was für eine Legende!
7. Miriam Suter, Natalia Widla: Hast du Nein gesagt? (Limmat Verlag)
Sachbücher ranken finde ich schwierig, das Buch war aber sehr erhellend, ist mir wirklich eingefahren und hat viele Dinge gezeigt, die ich nicht wusste – keine einfache Lektüre.
6. Dominik Muheim: D Räschte vo Hüt, Morgegschichte (Knapp Verlag)
Das ist eine Sammlung von Muheims "Morgegschichte" aus dem SRF. Die Texte sind alle auf Baseldeutsch geschrieben, unglaublich lustig und auch sehr klug. Bestes Buch, um ins neue Jahr zu starten, ich habe es letzten Januar gelesen.
5. Ivna Žic: Wahrscheinliche Herkünfte (Matthes & Seitz) Die Autorin geht der Geschichte ihrer kroatischen Grosseltern nach, verknüpft ihre Erfahrungen mit theaterwissenschaftlichen Theorien und Texten, schreibt über ihre eigene Arbeit als Regisseurin und Autorin. Ein sehr kluges Buch!
4. Chanel Miller: Know My Name (Penguin Books Ltd)
Ich habe das Hörbuch gehört, aber ich zähle das als (fast) gleichwertig zum Lesen. Die Autorin schreibt autobiografisch über ihre Vergewaltigung und die darauffolgenden Gerichtsprozesse. Ein wirklich schwieriges und herzzerreissendes Buch, das von den Ungerechtigkeiten des (amerikanischen) Justizsystems bei sexualisierter Gewalt erzählt, das aber ganz viele Menschen lesen sollten.
3. Ralph Tharayil: Nimm die Alpen weg (Voland & Quist)
Ein Versroman über die Kindheit eines Geschwisterpaars in der Schweiz, deren Eltern aus Indien stammen. Wunderbar, hätte ich das Buch nicht ausgeliehen, hätte ich ganz viel angestrichen, weil es so schön war (Der Autor ist übrigens an gleiche Gymi gegangen wie wir <3).
2. Anna Ospelt: Frühe Pflanzung (Limmat Verlag)
Auch ein Versroman über Mutterschaft und das Schreiben und Erwartungen an Frauen und Care-Arbeit und Lohn-Arbeit – eines der schönsten Bücher ever, bin sehr verliebt in Anna Ospelts Sprache.
1. Rick Riordan: Percy Jackson. The Chalice of the Gods (Disney Press)
Der neue (6.) Percy Jackson Band und auch wenn ich einige literarische Perlen gelesen habe im 2023, kommt rein emotional doch nichts an Percy Jackson heran. Dazu gleich mehr.
So, das war es. Und ich fühle mich ein bisschen schlecht, setze ich Percy Jackson vor alles andere, obwohl auch Sachbücher zu sehr ernsten Themen auf meiner Liste stehen. Aber sind wir ehrlich, niemand kann mit ihm mithalten. Ja, ich weiss, das sind im Grunde genommen Kinderbücher. Ja, ich weiss, ich lese Geschichten über einen (im aktuellen Buch) 17/18-jährigen, aber so viele Dinge lassen mich so sehr mitfühlen, dass ich mich einfach wirklich wieder neu in die Serie verliebt habe. Ich muss eingestehen, dass ich seit zwei Wochen wieder an kaum mehr etwas anderes denken kann als an Percy Jackson. Die Disney Plus Serie ist am 20. Dezember 2023 herausgekommen, es sind Stand heute erst vier Folgen draussen und ich habe alle vier Folgen bereits mindestens drei Mal geschaut, weil ich so im Hype bin. Jeden Mittwoch kommt eine neue Folge. Mein Bruder und ich können sie leider nicht gemeinsam schauen, wir verabreden uns aber jeweils zum halb- bis stündigen Debrief per Telefon. Ich höre auch wieder die Hörbücher (sie sind alle auf Spotify, Protipp von mir). Es ist erschreckend, wie obsessiv die Geschichte meine Gedanken einnimmt, aber auch irgendwie schön. Zwischen zwölf und siebzehn hatte ich das immer wieder mir verschiedensten Dingen. Ein Jahr lang hörte ich nur One Direction, konsumierte nur Musikvideos und Interviewausschnitte der Boyband. Dann kam 5 Seconds of Summer, irgendwo dazwischen waren die Hungergames und Green Day, dann gab es aber auch noch Sherlock, Harry Potter (immer wieder) und eben Percy Jackson (auch immer wieder) und ganz viele andere Dinge. Meine Eingenommenheit mit all dem Percy Jackson Content erinnert mich an mein jüngeres Ich, was auch irgendwie lustig ist. Es ist ein bisschen, wie verliebt sein. Hattest oder hast du das manchmal auch? Jedenfalls fällt es mir gerade schwer, nicht allen erklären zu wollen, wie schön es ist, dass eine Reihe mit einem ADHS-Protagonisten (und ganz vielen anderen inklusiven Figuren) so bekannt und so beliebt ist. Ich freue mich für alle Kinder, die sich in diesen Geschichten wiederfinden, und sich so ein bisschen aufgehobener fühlen in dieser Welt. Ja, das ist jedenfalls meine offizielle Empfehlung an dich, Vera, fürs 2024. Gönn dir Percy Jackson.
Zum Abschluss teile ich nun doch noch einige meiner Vorsätze mit dir. Ich habe eine Liste mit 24 Dingen, die ich im 2024 machen möchte, geschrieben, die ich aber nicht ganz teilen möchte. Hier sind also die harmlosen Punkte. Es ist eher eine To-Do-Liste statt eine Vorsatzliste. Ich möchte folgendes tun im 2024:
kraulen lernen (kann ich leider wirklich nicht gut und dann nur etwa eine Länge (25m), bevor ich eine Pause brauche)
ein Outfit nähen (dem geht das Wiederlernen des Nähens voraus)
alleine in die Ferien fahren (habe ich letzten Sommer gemacht und es war wunderbar)
mind. 1x im Monat ins Kino gehen (ich muss diese Preise unter 25 Jahren noch ausnutzen und möchte gerne Kinos mehr unterstützen)
52 Bücher lesen (als Vergleich: dieses Jahr habe ich etwa 74 gelesen, aber ich habe auch das ganze Jahr in Verlagen gearbeitet - to be fair lese ich aber doch auch einige Kinderbücher, die ich immer schnell durchhabe)
mein Buch fertigschreiben (das stand letztes Jahr schon auf meiner Liste, lol)
mit gutem Gewissen mit der Pfadi aufhören (mach ich dir nach, aber das ist ja auch okay)
diesen Blog hier durchziehen (ich ziehe dich also für meine Ziele mit in die Verantwortung)
Ich habe keine Fragen gestellt, ich glaube aber, du kannst trotzdem eine schöne Antwort formulieren. Ich freue mich auf deine Vorsätze.
Und um dem Neujahrs-Gesülze nicht ganz aus dem Weg zu gehen: Ich finde es eine Ehre, mit dir in dieses Jahr gestartet zu sein und hoffentlich weiterhin viel Zeit mit dir zu verbringen, wenn wir schon Nachbarinnen und Briefpartnerinnen sind.
Ich hab dich lieb,
Michelle
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