Liebe Vera
- Michelle Harnisch
- 21. Jan. 2024
- 7 Min. Lesezeit
Dieser Januar fühlt sich schon wieder sehr lange an. Das Jahr nimmt nur schleppend an Fahrt auf. Aber auch ich beobachte das immer länger währende Licht und freue mich, ist mein Fussweg abends zum Bahnhof in Zürich meistens noch nicht in Dunkelheit getaucht, sondern nur noch in dieses schöne Dämmerlicht. Am liebsten mag ich es, wenn der Himmel diesen einen spezifischen Blauton annimmt. Dämmerung bei wolkenlosem Himmel finde ich etwas Besonderes und geniesse ich immer. Winterhimmel sind auch viel schöner als Sommerhimmel, finde ich. Gerade finde ich es aber eigentlich auch gut, vergeht die Zeit noch nicht ganz so schnell. Denn mein Volontariat ist bald zu Ende, die Uni kommt näher, der Druck, eine Teilzeitstelle zu finden, steigt. Ich bin froh, habe ich dieses Jahr nicht allzu viele Lasten mit ins neue Jahr genommen, und ich hoffe, auch deine werden bald wieder leichter. Zur Leichtigkeit hier ein gelungenes Winterhimmelsbild aus Zürich von meinem Feierabend heute und ein weniger gelungenes, das aber genau das Dämmerblau zeigt, das ich gemeint habe, aus dem Zug.
Bezüglich Percy Jackson: ich bin immer noch sehr im Film. Ich habe dieses intensive Gefühl übrigens auch meiner Mitbewohnerin beschrieben und sie gefragt, ob sie mitfühlen kann. Sie meinte dann mitten in meinem Redeschwall irgendwann: «Michelle, ist das nicht ein ADHS-Dings? Das ist doch einfach dein Hyperfokus.» Und wahrscheinlich hat sie recht. Ich musste schmunzeln, als sie das sagte, denn es liess mich daran denken, dass ich mich nach 24 Jahren manchmal doch noch nicht so gut kenne, so gut verstehe, wie ich manchmal glaube, wie ich es mir manchmal wünsche. Jedenfalls hält die Obsession immer noch an. Ich habe innerhalb der letzten eineinhalb Wochen die gesamte Percy Jackson Reihe gelesen (5 Bücher) und bin jetzt am zweiten Buch der Helden des Olymps Reihe (eine Folgereihe mit ebenfalls 5 Büchern). Im Ganzen gibt es aus dem Universum fast 20 Bücher, da sind noch die alten Verfilmungen und ein Musical (du kennst meine Musical-Schwäche ja!), ich bin also bestens versorgt und kann mich gut im Thema vergraben. Die neue Serie mag ich immer noch sehr, die letzte Folge war aber nicht so gut und mein Bruder und ich waren ziemlich enttäuscht, als wir sie zusammen geschaut haben. Trotzdem feiern wir das Staffelfinale in zwei Wochen mit einer Watchparty bei mir daheim. Wir sind zwar nur zu dritt, aber ich freue mich. Falls du die Serie also bis dahin schauen solltest, bist du auch herzlich eingeladen.
Genug von Percy Jackson aber. Ich war sehr gerührt, als du mir geraten hast, bei meinen Figuren zu bleiben. «Gib ihnen deine ganze Aufmerksamkeit und Inspiration, ich nehmen den Rest» ist vielleicht etwas vom Nettesten, was je jemand zu mir gesagt hat. Ausserdem ist es, glaube ich, das erste Mal überhaupt, dass mir jemand rät, mein Schreiben zu priorisieren. Nicht einmal ich selbst mache das sonst. Ist aber auch noch ein Vorsatz, den ich nachträglich gerne anfüge. Letztens habe ich einen Anfang gemacht und jemandem abgesagt, weil ich arbeiten müsse. Und mit dem Arbeiten habe ich dann eben das Schreiben gemeint. Ich bin aber noch nicht sicher, ob sich das richtig anfühlt. Denn Arbeit macht eben doch auch meistens gleich etwas weniger Spass und ist weniger erfüllend. Vor allem, wenn sie unbezahlt ist, lol. Teilen werde ich vorerst leider noch nichts davon. So viele Dinge verändern sich ständig (obwohl ich mir immer wieder vornehme an den gesetzten Sachen nichts mehr zu ändern) und sind noch so nah bei mir, dass ich das noch nicht kann. Vielleicht geb ich dir privat aber mal was, wenn du mich in einem schwachen Moment erwischst.
Danke dir aber für den Text zu deiner Hobby-Eifersucht, die ich auch ganz gut verstehen kann. Nur ist es bei mir mehr Projektionsfläche, weil ich nicht ein Hobby an sich, sondern die Unbeschwertheit, die wir mit 16 hatten, manchmal etwas vermisse. Ich erkläre diese komische Verknüpfung gleich, aber ich möchte zuerst noch kurz festhalten: ich würde für kein Geld der Welt noch einmal 16 sein wollen. Never ever. Aber manchmal werde ich schon ziemlich nostalgisch, wenn ich an unsere Pfadizeit zurückdenke, in der noch alle aus unserer Gruppe ultraaktiv waren. In der wir uns jeden Mittwoch und jedes Wochenende gesehen haben. Weil wir Anlässe planen mussten, dann durchführten. Dann waren da noch die superintensiven zwei Wochen im Sommer, die sich gleichzeitig wie das Anstrengendste und das Schönste der Welt anfühlen konnten. Es war die Zeit zwischen 16 und 19, in der wir uns nach unseren Anlässen abends noch einmal getroffen hatten und noch einmal in den Wald gingen, ein Feuer machten und Bier tranken. Wir haben in unserer Freundesgruppe damals wirklich viel Zeit zusammen verbracht (und auch viel Bier getrunken). Ich kann mich an den Sommer erinnern, in dem wir vom Sommerlager nach Hause kamen und uns am nächsten Tag direkt wieder getroffen haben, weil wir alle so verliebt ineinander und in die Momente zusammen waren. Wir hatten alle so viel Zeit und da war es ganz einfach, Raum zu schaffen füreinander. Wenn jetzt jemand fragt, wer rumkommen möchte, schaffen es an guten Tagen vier Leute von den fünfzehn Personen im Gruppenchat. Ich glaube, ich vermisse das mehr als das Hobby selbst. Aber bei der Pfadi ist es dann jeweils so ineinander verschlungen, dass ich das in meinem Kopf nicht immer trennen kann. Ich hoffe, das macht Sinn.
Bei mir ist es aber, jetzt nochmals auf die Hobbys bezogen, häufig sehr phasenweise. Als ich geklettert bin, da war ich manchmal drei Mal in der Woche in der Kletterhalle. Mir fällt es dann dafür häufig eher schwer, durchzuziehen und den anfänglichen Motivationsschub beizubehalten. Aber ich finde das auch ganz okay. Nur muss ich halt, wenn ich Lust auf etwas habe, immer gleich handeln, sonst vergeht das meistens wieder. Auch das Stricken, Lesen, Schreiben kommt in Wellen, auch wenn die konstanter sind und sich dann eher in der Intensität unterscheiden. So funktioniere ich einfach. Der grosse Unterschied bei den Sachen, die ich wirklich durchgezogen habe, waren jeweils die Menschen. Bei der Pfadi sowieso. Aber auch jetzt im Handball. Das sind so coole Frauen, mit denen ich im Team spiele, dass ich sowieso Bock habe. Dann kommt auch noch dazu, dass man sich verbessern kann, Fortschritte sehen kann, Erfolge (in unserem Fall sind es immer Niederlagen) verbuchen kann. Und wenn man sich so in einer Gruppe eingefunden hat, ist das schon sehr erfüllend. Ist auch mit ein Grund, warum ich so eine grosse Fan von Teamsportarten bin.
Es tut mir übrigens leid, hast du dich nicht so ganz in die Gruppe am Theater eingefunden. Ich stelle mir das ziemlich schwierig vor. So als scheinbar unwichtiges Kettenglied ist es nicht ganz einfach, sich einen Raum zu schaffen. Finde ich sehr stark von dir, das einfach auszuhalten zu versuchen. Ich habe diese soziale Phobie ja praktisch immer, ich habe meistens Mühe, mich in Gruppen einzufinden. Du weisst, wie unangenehm es mir häufig ist, schon nur mit fremden Leuten zu sprechen. Darum hänge ich mich auf Partys auch immer an dich und die anderen, die ich bereits kenne. Sehr uncool, ich weiss.
Ich freue mich aber jetzt sehr doll auf die «Dreigroschenoper». Wir haben im Büro einen Termin abgemacht und kommen es im Mai alle zusammen schauen. Ich freue mich. Und nicht nur, weil ich weiss, dass ich also meine jetzigen Arbeitskolleginnen spätestens dann wiedersehen werde, obwohl ich dann nicht mehr dort arbeite. Denn ich bin auch grosse Fan des Abgewichse auf Brecht. Finde ich schon verdient. Beim Zmittag wurde ich von meiner Arbeitskollegin übrigens darin bestätigt. Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf die Inszenierung.
Deine Vorsätze finde ich sehr gut, obwohl ich mir ja sowieso nicht anmassen würde, deine persönlichen Ziele/To-Dos zu kritisieren. Nur etwas neidisch bin ich auf einige. Zum Beispiel «an eine Hochzeit in den USA gehen». Wie cool ist das denn bitteschön? Kraulen komme ich sehr gerne mit dir, auch wenn wir tatsächlich noch ein gutes Hallenbad suchen müssen, und auch an einen Fussballmatch komme ich sehr gerne mit. Ich war als Kind schon einige Male im Stadion. Eine Saison konnten wir sehr oft mit unseren Nachbarn mitgehen, die Saisonkarten und Vitamin B hatten. Da hab ich sogar ein Schild für Shaqiri gemacht in der Hoffnung, ich würde nach dem Spiel sein verschwitztes Trikot bekommen. Hab ich nie. Dafür hab ich auf den 11. oder 12. Geburtstag (ich bin mir nicht mehr sicher) ein originales FCB-Trikot von Mama geschenkt bekommen. Und ja, auch ich freue mich auf dieses 2024 und obwohl ich dieses Jahr mit der Pfadi aufhöre (endlich, oh mein Gott!), wird es, glaube ich, doch nochmals Pfadi-intensiv. Aber das ist auch okay. Macht mich auch nostalgisch, was ja auch sehr schön ist eigentlich. Das heisst, das ich doch schon viele wunderbare Sachen unter anderem mit dir und allen anderen aus unseren beiden Jahrgängen erlebt habe. Ich weiss nicht, ob man das irgendwie in Worte fassen kann, wie vereinnahmend das alles war. Vielleicht spüren wir dieses Jahr ja ein Fünkchen davon wieder. Das fände ich schön.
Zum Abschluss gehe ich noch auf dein «PS» ein. Yo, du hast einfach voll die ESC Kandidatur gespoilert, denn ja, ich habe den Hint natürlich verstanden. Ich glaube aber ehrlich nicht, dass zu unseren Lebzeiten je wieder jemand besser für den ESC geeignet sein wird als Luca Hänni. Sorry not sorry. Er ist sowas von gemacht für den ESC, I don’t make the rules. She Got Me ist legit ein zertifizierter ESC-Banger, da lässt sich nichts machen! Ich weiss noch, wann der Luca Hänni-ESC war. Also nicht das Jahr, aber ich weiss noch, wo ich war. Am 50. Geburtstag von meinem Stiefonkel, der eine 80er-Jahre-Party geschmissen hat. Es war unglaublich lustig, ich war unglaublich betrunken, und mein Bruder und ich haben immer wieder aufs Handy geschaut während der Punktevergabe. Haben im Livestream gezittert. Ich war sehr enttäuscht, wurde Luca Hänni nur Vierter. Vielleicht bin ich deswegen so abgestürzt? Mein Bruder und ich waren jedenfalls ein bisschen traurig darüber, dass Luca Hänni nicht gewonnen hatte. Wir hatten schon darüber geredet, dass wir uns so als Freiwillige melden würden, wäre der ESC dann mal in der Schweiz. Das wäre schon ein Fest. Aber ich bin auch Fan von Grossanlässen. So, jetzt darf ich den Namen Luca Hänni nie mehr benutzen in diesem Blog, denn ich glaube, ich habe mein Kontingent gerade aufgebraucht. Aber ich möchte erwähnen, dass ich ihn als Teenie schon cool fand. Ich hab die Musik nie gehört, aber die Staffel DSDS, von der er Teil war, war die einzige Staffel DSDS, die ich je geschaut habe. Und in richtiger Schweizerinnen-Manier, muss ich auch noch erwähnen, dass mein Gotti auf dem gleichen Campingplatz einen Wohnwagen hat, wo auch die Eltern von Luca Hänni einen Wohnwagen haben. Darum habe ich irgendwo auf meiner Festplatte auch noch ein Selfie von meinem Bruder und Luca Hänni auf ebendiesem Campingplatz. Iconic.
So, es ist Freitagabend, ich bin von der Museumsnacht heimgekommen, es ist halb zwölf (ich weiss, erst halb zwölf während der Museumsnacht!) und ich muss morgen um sechs Uhr aufstehen, weil wir mit der Pfadi einen Skitag haben. Ich gehe jetzt ins Bett und morgen schlitteln. Juhui!
Bis hoffentlich bald, bevor du nach Indien düst. Ich freue mich schon auf die Briefe vom anderen Kontinent!
Alles Liebe
Deine Michelle
PS: Noch zu deinen Frankreich-Wochenenden: «Vielleicht gehören sie mir» verstehe ich gut. Manche Dinge muss man nicht aufschreiben. Nicht einmal für sich, aber bestimmt nicht für andere.
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